Dein Name
zu gewinnen für die Ordnung seiner Gedanken, setzt der Cousin mit einer allgemeinen Bemerkung über die Schwierigkeit des Autors an, auf eigene Erfahrungen zurückgreifen zu müssen, die zugleich die Erfahrungen anderer seien und ihm deshalb nicht gehörten. Er sei ein Verräter, selbst wenn und gerade wenn er es verberge. Wer hingegen die Menschen beim Namen nenne, stelle sich dem Gericht auf Erden. Sie könne kein Deutsch, dennoch möge sie ihm glauben, daà alles, was er über Tante Lobat schrieb, das Gegenteil des Ehrenrührigen sei, das vollständige Gegenteil. Tante Lobat sei ihre Mutter, ja, aber ihr Sterben existentiell auch für sein Leben gewesen. Er spricht von der Verzweiflung ausgerechnet der Gerechtesten in der sufischen Literatur und geht auf Hiob ein, dessen Erfahrung nichts Fernes sei, vielmehr bezeugt von jedem, der Tante Lobat am Schluà sah. Hier hebt der Onkel mütterlicherseits, der mit der wesentlich jüngeren Cousine väterlicherseits verheiratet ist, zu einem Referat über das Hiobsmotiv bei Saadi und Hafis an. Gegen alle Gewohnheit sagt die Cousine ihrem Mann, nein, befiehlt sie ihm, den Neffen und Cousin ausreden zu lassen. Dem Neffen und Cousin tut es leid, weil der Onkel bereits am Abend zuvor bei einer der üblichen Geselligkeiten nicht ausreden durfte, an denen er stumm, manchmal wie abwesend teilnimmt (manchmal nickt er auch ein), es sei denn, er kommt mit einem der Verwandten ins Zwiegespräch (der Neffe bietet sich jedesmal an) oder hält einen seiner Monologe, die sich fast immer auf ein Buch beziehen, das er gerade oder vor ein paar Jahren gelesen hat (der Neffe soll es sich für seine Arbeit unbedingt besorgen). Deshalb fühlte der Neffe mit, als gleich am nächsten Morgen erneut jemand dem Onkel ins Wort fiel, aber ändern konnte er es auch nicht, nicht einmal der Form nach widersprechen, da die Cousine recht hatte und es jetzt wichtiger war zu hören, was er zu sagen hatte, der Cousin und Neffe, als über das Hiobsmotiv in der persischen Literatur unterrichtet zu werden. Der Cousin und Neffe sagte also, daà Tante Lobat ihm wie Hiob vorgekommen sei, eine Gerechte, deren Leid zu übermächtig geworden, um es weiter mit Geduld zu tragen, in ihren Blicken jene zornige Klage, die Gott denen zubilligt, nur denen, die Ihm am nächsten stehen. Später saÃen sie zu einem frischen Sauerkirschsaft noch immer um den Sofatisch in der Diele, die auch heute in den meisten iranischen Häusern das eigentliche Wohnzimmer ist, hingegen das Wohnzimmer den gröÃeren Geselligkeiten und vornehmeren Gästen vorbehalten; später hörte der Onkel immer noch zu, ohne einen Kommentar zu wagen oder weil das Gespräch ihn wirklich interessierte; später fing die Cousine zu erzählen an: Im Verlaufe von sechs Jahren war Tante Lobat zum Geist geworden. Eine nach der anderen setzten die Funktionen ihres Körpers aus, bis auÃer dem Gehirn nur noch die Nerven übrigblieben, der Verstand und die Empfindungen. Ihre Nahrung bestand täglich aus einem halben Teelöffel Nichts. Oft verweigerte sie den Teelöffel, sie wollte sterben. Drei groÃflächige Wunden hatte sie am Körper, deren Eiterung sich nicht verhindern lieÃ. Die Cousine konnte die Knochen sehen, die entzündeten Knochen, so tief waren die Wunden. Nachts klingelte sie den Hausarzt aus dem Schlaf. Er könne wieder Antibiotikum verschreiben, sagte der Hausarzt, als er sich kurz darauf die Knochen ansah, aber dieser Körper wolle nicht mehr, dieser Körper sei am Ende. In dieser Nacht entschied die Cousine, daà sie für Tante Lobat nichts tun könne, als sie sterben zu lassen. Den Tod herbeizuführen schied für die Cousine aus, obwohl sie über die Möglichkeit mehr als einmal nachdachte, nein, fast jede Sekunde nachdachte, wie sie sich berichtigte. Das durfte sie nicht, sosehr ihre sprachlose Mutter darum zu bitten schien, diese letzte Entscheidung war Gott vorbehalten ⦠Jetzt, da der Cousin diese Sätze aus den Stichwörtern in seinem Notizbuch rekonstruiert, ein halbes Jahr später in einem Hotel in Verona, wo er um 17 Uhr den Vortrag über Kafka wiederholen soll, den er in Deutschland dem Präsidenten vortrug, 14:32 Uhr am 14. September 2008, schieÃen ihm die Tränen in die Augen, so daà er unterbrechen muà oder von etwas anderem schreiben: Nicht Maria, die in den Himmel gefahren ist,
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