Dein Name
sage ich auch im Interesse dieser Elenden, auf die in Europa nur Kriminalität, Prostitution und Drogen warten. Wir dürfen ihre Hoffnungen nicht enttäuschen.
Vom Wetterleuchten wacht der Berichterstatter auf. Vom Fenster aus sieht er die Küstenwache aus dem Hafen fahren und benachrichtigt die Ãrzte ohne Grenzen, die zurücksimsen, daà auÃerdem ein französisches Schiff siebzig Meilen vor der Küste Flüchtlinge an Bord genommen habe. Gegen Morgen müsse es eintreffen. »Will you let me know when they arrive whenever it is? Another big ship is coming.« »Of course. Ciao.« In dem Augenblick, in dem er auf die Terrasse tritt, stürzen Eisklumpen vom Himmel, wie er es noch nie gesehen, nicht einmal für möglich gehalten hat. Erst begreift er es nicht, springt nur unters Dach, um nicht erschlagen zu werden, dann sieht er ein, daà es Hagel sein muà und keine Apokalypse, tischtennisballgroÃ. Nach einigen Minuten bricht das Gewitter aus. Das Wasser überflutet so schnell die Terrasse, daà es im Zimmer steht, obwohl der Berichterstatter Handtücher vor die Türritzen wirft. Selbst Jean Paul und die Allmacht werden naÃ, die Digitalkamera, das Handy, weil der Sturm die Tropfen durch das Fenster, das er nicht rechtzeitig schloÃ, bis auf den Schreibtisch sprengte. Als das Gewitter etwas nachläÃt, hält er vom Fenster auf der einen, der Terrassentür auf der anderen Seite des Zimmers Ausschau nach den Schiffen. Endlich erspäht er die Küstenwache, die ohne Flüchtlinge an Deck in den Hafen einzufahren scheint. Allerdings verliert er sie überraschend aus dem Blick, als er zum Fenster hinübergeht. Auch von der Terrassentür aus ist sie nicht mehr zu sehen. Am Donnerstag, dem 25. September 2008, bleibt ihm um 1:04 Uhr nichts anderes übrig, als auf den Anruf der Ãrzte ohne Grenzen zu warten, die mit der Küstenwache in Verbindung stehen. Was an John Bergers neuestem Buch Hier, wo wir uns begegnen zuerst erstaunt, um nicht immer nur Jean Paul zu lesen, jede Nacht Jean Paul, ist der Ton, alles andere als abgeklärt, ja unsicher, hell und hellwach, neugierig, manchmal ungelenk, Sätze, die nichts aussagen als ihren Inhalt, und dann wieder Poesie, die keine Strophen braucht, Versenkung, Schreiben bei Stromausfall mit Bleistiftstummel als Geisterbeschwörung, und zwar wörtlich, Horchen und Nachsprechen zur Erweckung der Toten, die wirklich aus einem Aufzug treten, 1951 gestorben, setzen sich in eine Hotellobby, bestellen einen Kaffee, 1944 zum letzten Mal umarmt. Hieà sie nicht Audrey? Ton, nicht Stil, weil ich beim Lesen seine Stimme zu hören meinte, John Bergers junge Stimme, die einen durch John Bergers langes Leben führt, 1926 geboren, älter als mein Vater, der Schreiner und der Herr, der sich im Bergischen Land verlief, berichtet vom Krieg, wirklichem Krieg, Luftangriffen, Mundraub, vom Geschmack eines Stücks Obst, dem Geruch von Haaren, die ohne Seife gewaschen worden sind. Die Wehrmacht macht bei Krakau zweihundertfünfzigtausend Gefangene. Die Geduld könnte es sein, die ihn verjüngt, ja Geduld, weil noch Zeit ist, wo Zeit nicht mehr zählt. Um sich der Menschen zu erinnern, verweilt er Hier, wo wir uns begegnen , nicht dort, nicht Perfekt. Erfundenes nur im Sinne des Träumens: Möglichkeiten. Auch ihm gelingt ein Totenbuch, sofern Gelingen ein Ausdruck wäre, ihm gelingt, was Literatur aufgetragen ist: Auferstehung. Und doch zahlt er einen Preis, den ich, so befürchte, ahne ich, nicht zahlen könnte, nicht zahlen darf. Er zahlt mit seiner Kunst. Seine Begegnungen sind genauer, geheimnisvoller beschrieben, als es dem Berichterstatter je gelänge. Sein Buch hat eine Melodie, einen Bogen, Anfang und Ende. Als der Roman begann, den ich schreibe, war an Melodie nicht zu denken, Suche nach einem Ort, an dem der Berichterstatter atmen könnte, Kunst? ein Diktiergerät für Stumme, das er mit sich trug, nur noch 23,5 mal 17,5 mal 1,8 Zentimeter ist seine Kunst groÃ. Eindringlicher als John Bergers Begegnungen wirkt auf mich am Wegrand Liegendes, eine Melone zum Beispiel, eine Zwetschge, ein verschrumpelter Pfirsich, Renekloden, Kirschen oder die zwanzigtausendjährigen Höhlenzeichnungen von Cro-Magnon. Keinem der Menschen, von denen er erzählt, trauere ich nach. Es gab sie nicht einmal, sie sind Träume. Der Berichterstatter wollte Gott ihre Existenz beweisen. Das Handy
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