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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Tante Monireh, die ohne weiteres Bedenken zu ihrem Mann robbte, um das Photo zu nehmen, das auf der Decke lag. Als sie in einer Lautstärke, die niemand für möglich gehalten hätte, vor Entsetzen aufstöhnte, brach Herr Mussawi in lautes Gelächter aus: Es war ein Paßbild der greisen, zahnlosen Hausangestellten Hadschi Chatun. Unter den häßlichsten Kehllauten, rasend, warf Tante Monireh sich auf ihren Mann und schlug ihn mit ihrem Pantoffel, dem Kerzenständer und was sie sonst noch zu fassen kriegte. Mit den Beulen, die er davontrug, gab er bei den Abendgesellschaften noch lange an.
    Großvater war lange Zeit vor meiner Geburt, also in recht jungen Jahren, als es in der Familie mit Sicherheit noch ältere gab, bereits das Oberhaupt, um ihn jetzt doch einmal so zu nennen, all dieser Menschen, der Nachfahren des Schafi und also eines wirklichen Bienenschwarms, wie sich noch bei jeder reunion erweist, wenn seine ausgewanderten Enkel ein Hotel oder eine Ferienanlage der Franken in den Ausnahmezustand versetzen. Die Mutter schreibt, daß die Gespräche verebbt seien, wenn er das Zimmer betrat, und alle sich erhoben hätten. Die Brüche, die es im Verhältnis zu ihrem Vater doch auch gegeben haben muß, spricht sie nicht an. Statt dessen hebt sie hervor, wie er es in all seiner Strenge klaglos hinnahm, daß niemand in der Familie oder im Haus so sittenfest war, wie er es sich erhoffte, nicht seine Frau, nicht seine fünf Kinder, nicht das Dienstpersonal. Nicht einmal den ständig betrunkenen Koch Mohammad Hassan warf er aus dem Haus. Die Mutter rühmt Großvaters Kenntnis der arabischen, englischen und französischen Literatur sowie der islamischen Philosophie, besonders ihrer mystischen Schulen, und berichtet, daß er in seine Reden oft Verse und Geschichten aus dem Koran und der Poesie einflocht, vor allem von Saadi. Oft erzählte er von seinen Erlebnissen am Persischen Golf oder dem Unterricht bei Doktor Jordan, dem Direktor der Amerikanischen Schule, der sich in der persischen Literatur besser auskannte als die Iraner selbst, wie Großvater dann jedesmal seufzte. Alle brachte er zum Lachen, wenn er den englischen Akzent nachahmte, mit dem Doktor Jordan Saadis Vers zitierte, wonach eine nützliche Lüge einer Wahrheit vorzuziehen sei, die Unfrieden stiftet. Noch sechzig Jahre später widersprach er der Ansicht seines Schuldirektors, daß der Vers einen Freibrief zur Lüge ausstelle. Ein freundliches Herz hatte Großvater, schreibt die Mutter, eine barmherzige Seele, eine grenzenlose Liebe zu seinen Mitmenschen, kümmerte sich um die Nöte seiner Bauern mit der gleichen Hingabe wie um jedes Wehwehchen seiner Töchter, die Bedürfnisse seiner greisen Mutter oder den Kummer seiner taubstummen Schwester Monireh. Wenn sich die Großeltern einmal stritten, schreibt die Mutter, dann mit Sicherheit deshalb, weil Großmutter sich wieder über die leeren Hosentaschen ihres Mannes aufregte, der noch keinen Rial seiner Schulden bezahlt und dennoch alles Geld für seine Dörfer und Bauern ausgegeben hatte, statt endlich das Haus zu renovieren, sich einen neuen Anzug zu kaufen oder ihr das elektrische Bügeleisen. Wenn er von den schrecklichen Krämpfen erfuhr, unter denen meine Mutter und meine Tanten während den Monatsblutungen litten, oder überhaupt von einer Krankheit oder den Qualen eines Familienmitglieds, fühlte er so stark mit, als habe er selbst den Schmerz empfunden, schreibt die Mutter, und er nahm meine Mutter in den Arm, wenn sie ihre Regel hatte, streichelte sie, massierte vorsichtig den Bauch und schaute so gequält, daß sie manchmal meinte, ihn trösten zu müssen. Bei der Mutter ist es nicht anders, wenn wir krank sind, dann sage ich von vornherein immer, daß ich praktisch schon gesund sei und sie sich keine Sorgen machen solle, weil ich nicht mit ansehen mag, wie sie mitleidet. Während Großvater behauptet, daß er bis in die Abendstunden arbeitete, behauptet die Mutter, daß er gegen drei oder vier Uhr nach Hause zurückkehrte, zu Mittag aß und sich eine Stunde hinlegte. Danach habe er die Kinder zu sich gerufen, damit sie auf seinem Rücken wie auf einer Brücke gingen oder Pferdereiten spielten. Für ihn sei es eine Massage gewesen, für die Kinder ein Heidenspaß. Nach dem Tee habe er ausnahmslos jeden Tag seine Mutter und meist noch seine taubstumme Schwester Monireh

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