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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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besucht, die seinen Berichten von den Ereignissen des Tages und der Welt dankbar gelauscht habe. Außer für die ehemalige Freundin von Nummer sechs, den Frieden, die Armen, die Eltern und die Schwiegereltern, betet die Familie des Enkels weiterhin für den Musiker in München.
    Vereist waren die Kanäle, die in Isfahan nicht nur der Bewässerung dienten, sondern mit den Wiesen und Bäumen entlang ihrer Ufer auch den Kindern zum Spielen, den Verlobten zum Kennenlernen, den Alten zum Schlendern (und den Armen als Waschtröge, Toiletten und Trinkwasserbrunnen, Mutter!). Durchzogen sie früher die gesamte Stadt, die freilich viel kleiner war, sind die meisten längst zugebaut worden, aber wo das Wasser noch fließt, sieht Isfahan heute noch wie der Garten aus, den die Reisenden bis in die vierziger, fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts besangen, mit grünen Ufern und eigensinnigen Bäumen, zwischen denen sich ab und zu ein Auto durchzuschlängeln versucht. Seine Schwester Monireh war nicht im Haus, als Großvater wie jeden Nachmittag mit seinen beiden Töchtern zu Besuch kam. Er entdeckte sie am Kanal, wo sie ein Loch im Eis aufgebrochen hatte und die Windeln ihres Babys wusch (also doch, Mutter!). Die Mutter erklärt nicht, was genau Großvater beim Anblick seiner Schwester am vereisten Kanal erschütterte, neben ihr ein Haufen vollgeschissener Windeln. Sein Großvater, mein Ururgroßvater, gehörte zu den reichsten Großgrundbesitzern der Stadt, und noch sein Vater war ein wohlhabender Mann. Großvater als dessen ältester Sohn und Haupterbe hatte das Vermögen der Familie nicht bewahren können, die Einnahmen aus den Ländereien waren nach Stammesrevolten, Landbesetzungen und Bauernaufständen eingebrochen, vielleicht wirtschaftete er auch schlecht. Verarmt war er deswegen noch lange nicht, verfügte vielmehr über ein solides Gehalt als stellvertretender Direktor der Nationalbank in Isfahan und genoß – mehr noch wegen seiner Herkunft als wegen seines bürgerlichen Berufs, dazu wegen seiner Frömmigkeit bei den einen und seiner republikanischen Ansichten bei den anderen – in der Stadt hohes Ansehen, wie mir ältere, fremde Menschen in Isfahan bis heute versichern, denen ich im Basar oder bei Einladungen den Familiennamen der Mutter nenne. Natürlich lebten in seinem Haus Bedienstete, wie in fast allen großbürgerlichen Familien bis zur Revolution. In solchen Kreisen wuschen die Damen nicht die Wäsche, schon gar keine Windeln, schon gar nicht am Kanal, wo die Nachbarn sie hätten sehen können, schon gar nicht, wenn es so kalt war, daß sie das Eis aufbrechen mußten. Er selbst hatte sie zu den Kindern überredet. Sie hatte keine gewollt, sie hatte sich scheiden lassen von dem nichtsnutzigen Herrn Mussawi, der alles Geld, das Geld, das sie in die Ehe eingebracht, und die Scheine, die Großvater ihr zusteckte, für seine Sucht und seine Vergnügungen ausgab. Der untergeordnete Posten in der Nationalbank, den Großvater ihm beschafft hatte, obwohl das gar nicht der Korrektheit entspricht, die er in seiner Selberlebensbeschreibung für sich in Anspruch nimmt, verhalf Herrn Mussawi nicht zu einem geregelten Leben. Im Gegenteil: Mit seinen kontinuierlichen Übertretungen – nichts Gravierendes, hier nahm er sich ein paar Rial aus der Teekasse, dort ohne Erlaubnis ein paar Stunden frei –, war er schon bald nicht mehr zu halten. Alle merkten, daß der attraktive Herr Mussawi, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte, die taubstumme Tante Monireh nur geheiratet hatte, um an ihr Geld und auf ihre soziale Stufe zu gelangen, alle ahnten, daß er sie mit anderen Frauen betrog, aber damals, so fährt die Mutter in ihrer Selberlebensbeschreibung geradezu emanzipatorisch fort, damals wahrte man zwanghaft den Schein harmonischer Familienverhältnisse, selbst wenn das Unglück nicht zu übersehen war, fast immer das Unglück der Frauen. Eine Frau, so die allgemeine Meinung, war vor allem anderen eine Gattin und Mutter. Alleinstehend zu bleiben galt als ihr schlimmstmögliches Schicksal, vor dem die Familie sie unbedingt bewahren mußte. Selbst Großvater bedrängte seine Schwester jedesmal, sich wieder zu vertragen, wenn sie sich mit Herrn Mussawi gestritten oder er sie schlecht behandelt (betrogen, geschlagen?) hatte. Als taubstumme Geschiedene hätte sie so leicht

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