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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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dargestellt wird, schnell komisch wirkt oder jedenfalls unnatürlich, wie er selbst es ein einziges Mal, auf dem Bild vom ungläubigen Thomas, gemalt hat, der seinen Finger in Jesu Bauch steckt, als sei darin Luft. Caravaggio interessiert allein der Mensch. Unter allen Malern hat er den schärfsten Blick dafür, was die Erscheinung des Himmlischen für die Irdischen bedeutet: Es zersprengt sie. Setzt man sich seinen Bildern aus, die nicht die Offenbarung zeigen, sondern vielfach die Qual derer variieren, denen offenbart wurde, mag man von »froher Botschaft« nicht mehr sprechen. »Wenn ihr wüßtet, was ich weiß, ihr würdet wenig lachen und viel weinen«, sagt es der islamische Prophet, dem bei der Erscheinung des Engels der Schaum vor dem Mund trat und der vor Schmerz wild um sich schlug, so daß ihn viele für besessen hielten, für einen Epileptiker oder für geisteskrank. »In der Berufung des heiligen Matthäus« fängt Caravaggio ein einziges Mal den Moment unmittelbar vor der Berufung ein, nicht das Berufensein selbst. Daß die Situation nicht ahnen läßt, was gleich geschieht, ist ihr eigen. Wüßte man es nicht, könnte man sich unter allen fünf Menschen, die um den Tisch sitzen oder stehen, am wenigsten Levi vorstellen als den, der gleich mit glasigen Augen und weitgeöffnetem Mund, wie ein Mondsüchtiger dem Fremden folgt. Oder vielleicht nicht einmal das: Vielleicht ist es genauer zu sagen, daß man es sich bei keinem von ihnen vorstellen kann. Das würde bedeuten, daß jeder Mensch erwählt werden könnte. Wirklich der? fragt der Bärtige, derweil sein Nebenmann die Münzen interessanter findet. Der Mann im Vordergrund mit Feder am Hut scheint gar nichts zu kapieren. Zu Jesus blickt er, weil der Junge ihn unterm Tisch gegen das Schienbein tritt: Ja und? Betrachtet man nur die vier Männer und den Jungen, würde man alles vermuten, was ihre Aufmerksamkeit beansprucht, Randale am Nebentisch, einen strengen Gastwirt oder einen Steuereintreiber, wie sie selbst welche sind, aber nicht, daß ihnen gerade der Messias erscheint. Genau das macht schließlich das Wunder aus: nicht, daß man etwas für unmöglich gehalten, vielmehr, daß man die Möglichkeit nicht einmal gedacht hatte; nicht Antwort, sondern neue Frage. Sowenig wie die zeitgenössische Kleidung ist es Zufall, daß Die Berufung des heiligen Matthäus nicht als Einzelbild konzipiert ist, sondern als Teil eines Zyklus, der in einem Seitenaltar der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom hängt. Wie zur Warnung zeigt das Martyrium auf der gegenüberliegenden Seitenwand, worauf die Berufung hinausläuft. Ursprünglich bestand der Zyklus nur aus den beiden Gemälden, die von der Figur des Heiligen bereits das Wesentliche aussagen: Wahllosigkeit und Opfer. »Wie in Rom, im wirklichen Rom, ein Mensch nur genießen und vor dem Feuer der Kunst weich zerschmelzen könne, anstatt sich schamrot aufzumachen und nach Kräften und Taten zu ringen, das begreif’ ich nicht«, heißt es im Titan . »Im gemalten, gedichteten Rom, darin mag die Muße schwelgen; aber im wahren, wo dich die Obelisken, das Coliseo, das Kapitolium, die Triumphbogen unaufhörlich ansehen und tadeln, wo die Geschichte der alten Taten den ganzen Tag wie ein unsichtbarer Sturmwind durch die Stadt fortrauschet und dich drängt und hebt, o wer kann sich unwürdig und zusehend hinlegen vor die herrliche Bewegung der Welt? – Die Geister der Heiligen, der Helden, der Künstler gehen dem lebendigen Menschen nach und fragen zornig: was bist du?« Der Finger könnte auf jeden zeigen, immer. Die Tür hinter mir könnte aufgehen und der in der Tür steht, mein Leben zersprengen, das Sehnsuchtsmotiv der deutschen Romantik: nichtsahnend ging ich aus dem Haus, als plötzlich … nur daß meine Aufgabe darin besteht zu beschreiben, daß nichts plötzlich passiert, nichts die Realität mehr erweitert außer in Büchern, auf Bildern.
    Die Gäste trafen ein, der Gouverneur, der Bürgermeister, die Lokalgrößen der verbündeten Parteien, auch Sarem od-Douleh und sogar Onkel Oberstleutnant, der sich gerade in einen Republikaner verwandelte, die Freunde, die Verwandten – nur der Parteivorsitzende Ahmad Zirakzadeh nicht. Großvater wartete so lange mit dem Essen, bis die ersten Gäste schon Anstalten machten zu gehen. Er

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