Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Zivilisation und die Vornehmheit seiner Bewohner zu rühmen. So penetrant habe er Deutschland gelobt und dabei so offenkundig übertrieben, wie es wahrscheinlich nicht einmal den patriotischsten Deutschen eingefallen wäre. Wenn Großvater die Verbundenheit den zwanzig Jahren zuschreibt, die mein Vater bereits in Deutschland verlebt habe, bringt er allerdings gehörig die Zeiten durcheinander: Ein paar Seiten vorher, als die Wohnung zu klein war, hatte mein Vater gerade mit dem Studium begonnen, jetzt lebt er schon seit zwanzig Jahren in Deutschland. Großvater gesteht ihm zu, daß die deutschen Städte, weil sie nach dem Krieg größtenteils neu geplant und wiederaufgebaut worden seien, tatsächlich sehr sauber, modern und hübsch aussähen, aber in Frankreich angekommen und erst recht, als sie das magisch anmutende, einzigartige Schloß von Versailles besichtigten, hätten sich die Hymnen meines Vaters sehr zügig relativiert. Großvater gehe bei weitem nicht so weit wie Großmutter und behaupte, daß Deutschland gar nichts sei gegen Frankreich. Solche apodiktischen Urteile stünden ihm fern. Gleichwohl hebt er mit merklicher Genugtuung hervor, daß mein Vater am Ende der Reise selbst eingesehen, ja, mit eigenen Worten zum Ausdruck gebracht habe, daß Frankreich hinsichtlich seiner historischen Bedeutung, der Pracht seiner Städte und der betörenden Harmonie seiner Landschaften sogar sein geliebtes Deutschland übertreffe. Leider deutet Großvater den Grenzübertritt nur vornehm an, der über unsere Familie hinaus in Isfahan legendär ist: Nach Überquerung der Rheinbrücke sofort davon in Kenntnis gesetzt, sich nun auf französischem Boden zu befinden, schloß Großmutter die Augen, atmete tief durch und seufzte dann ohne jede Ironie laut auf: Ach, was ist das nur für eine herrliche Luft hier! Nach der Paßkontrolle übernahm sie die Reiseleitung, indem sie aus dem Auto stürmte und den erstbesten Franzosen wild gestikulierend Mossio, Mossio , Pâris kodjâst ? fragte, was »Monsieur, Monsieur, wo ist Paris?« bedeutet, nur leider auf persisch. Großvater schreibt lediglich: »Als wir über die Grenze fuhren, entschuldigten wir uns bei meinem lieben Schwiegersohn und den guten Enkeln dafür, daß wir in Deutschland etwas zurückhaltend gewesen waren, und erklärten unsere Schweigsamkeit mit der Unkenntnis der deutschen Sprache.« Da Großmutter auch von der französischen Sprache nicht viel mehr kannte als Mossio und merci und mein Vater am Ende ihrer wild gestikulierten Wegbeschreibung hilflos wie Maria Kleophas bei der Grablegung in den Himmel blickte, fiel die Reiseleitung auf Großvater. Anfangs habe er sich mit dem Französischen, weil er es so viele Jahre nicht geübt, etwas schwer getan, aber es nach ein paar Tagen wieder fließend und mit großem Vergnügen gesprochen – mit so viel Vergnügen, erfuhr ich vom Vater, daß die Familie oft auf Großvater warten mußte, wenn er wieder einen Pfarrer oder eine junge Marktfrau in ein Gespräch verwickelt hatte. Seine vorübergehende Blindheit, von der mein Vater sprach, erwähnt Großvater ebenfalls. Bei der Ankunft in Paris sah er plötzlich nicht einmal mehr die eigenen Hände. Erst meinte er, in einen Sandsturm geraten zu sein, so daß er sich mit dem Taschentuch die Brille putzte und die Augen rieb. Als das nicht half, geriet er in Panik und schrie meinen Vater an, er solle sofort anhalten, nein, umdrehen und ihn sofort zum Flughafen bringen, er müsse so schnell wie möglich nach Teheran. Vorsichtig wandte mein Vater ein, daß Kranke aus aller Welt ins Land der Franken kämen, um sich behandeln zu lassen, und es daher, mit Verlaub, ungewöhnlich sei, wegen einer Erkrankung nach Iran zu fliegen. Das Argument leuchtete Großvater ein. So fuhr mein Vater wieder los, um sich zum nächsten Krankenhaus durchzufragen – aber wie, wenn niemand im Auto Französisch sprach außer Großvater selbst, der also übersetzen mußte, ohne etwas zu sehen. Die Wüste seines Gesichts muß so elend ausgesehen haben, daß sich gleich der erste junge Mann, den er durchs heruntergekurbelte Fenster blind nach dem Weg fragte, auf die Rückbank zwängte, um Großvater zu einem Arzt zu bringen, der Gott sei gepriesen das Sehvermögen nach kurzer Behandlung wiederherstellte. Auch die Diagnose, wie

Weitere Kostenlose Bücher