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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Großvater sie zitiert, deutet auf das Stendhal-Syndrom hin: »Überanstrengung des Auges durch ausdauerndes, intensives Schauen.« Für die Visite nahm der Arzt genausowenig Geld an wie der junge Mann dafür, daß er sich auf die Rückbank gezwängt hatte: »Sie sind Gäste, und unsere Pflicht als Gastgeber ist es, Sie gebührend zu empfangen.« Von der Klinik aus fuhren sie zum Camping und schlugen ihr Zelt auf, um sich die Wunder von Paris anzuschauen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Großvater sie weniger ausdauernd und intensiv betrachtete.
    Zu den Jahren zwischen der Auswanderung der Eltern und dem Besuch der Großeltern, fällt dem Orthopäden sofort ein, gehört auch die tyrannische Vermieterin, die unangemeldet und ohne zu klingeln ins Zimmer platzte, wann immer es ihr gefiel, und bei jedem Spielzeug, das auf dem Boden lag, jedem Spültuch, das nicht ordentlich genug am Haken hing, bei jedem Geräusch, das auf den Flur drang, mit Kündigung drohte. Ihr verdankt er sein frühkindliches Trauma, das in der psychologischen Analyse regelmäßig wiederkehrt, ist der Orthopäde überzeugt: Nur einmal die Woche durften sie das Bad betreten, das in der Wohnung der Vermieterin lag. In den Analysen sieht er, wie er glücklich in der Badewanne planschte, wahrscheinlich zusammen mit dem heutigen Internisten. Die Mutter saß neben ihnen auf dem Boden, mit ihrem Deutschkurs an die Wand gelehnt, so klein war das Bad. Plötzlich stand die Vermieterin in der Tür und fuhr den heutigen Orthopäden und wahrscheinlich den heutigen Internisten an, die sinnlos das Wasser verschwenden würden. Er sieht, wie die Mutter an die Wand gelehnt weinte, ohne einen Mucks zu sagen. Er sieht die Vermieterin, die gar nicht aufhörte zu brüllen und mit den Händen fuchtelte, er sieht sich und wahrscheinlich den heutigen Internisten vor ihr nackt in der Badewanne. In der Wohnung am Hang gegenüber vom St. Marien hatten sie ein eigenes Bad, keine Tyrannin mehr als Vermieterin, die der Mutter plötzlich befahl, ab jetzt zweimal die Woche das Treppenhaus von oben bis unten zu putzen, im Hochhaus, und zwar gründlich, obwohl nichts davon im Mietvertrag stand, sonst hole ich die Polizei, aber Großmutter war enttäuscht, wie ärmlich alles war, eng wie in einem Gefängnis. An die Autopanne kann sich der Orthopäde nicht mehr erinnern, ebensowenig an etwaige Besichtigungen in Siegen und Großvaters vorübergehende Erblindung, nur an die Campingplätze. Ja, die Luftmatratzen – stimmt, die hatten es Großvater angetan. Auch ohne Analyse sieht der Orthopäde Großvater, der auf dem Beifahrersitz saß, für alle Eindrücke dankbar, genügsam und immer freundlich, nicht unähnlich dem Vater. Ich weise den Orthopäden auf den Jähzorn hin, den der Vater erst ablegte, nachdem er das erste Mal am offenen Herzen operiert worden war. Großvater hatte auch vieles abgelegt.
    Der alte Herr wird schreiben, daß das Gespräch auf dem Teppich, den der Schwiegersohn am Ufer des Genfer Sees ausgerollt hatte, bevor er mit dem ältesten der drei Enkel schwimmen ging, von jener tiefen Heiterkeit gewesen sei, die einem nur fern der Heimat zuteil werde, frei von den Sorgen, Plänen und Wünschen des Alltags. Nicht nur die Schönheiten der Landschaft betören ihn, auch die Menschen, die lautlos wie die Segelboote an ihnen vorübergleiten, obwohl sie sich doch unterhalten, so rücksichtsvoll sind sie – überhaupt die Ordnung und Harmonie, die sich in der Natur genauso wie in der Zivilisation ausdrückt. Schon wieder sagt er sich, wieviel verträglicher die klar umrissene Selbstbestimmung der Franken doch sei, die es jedem Menschen erlaube, die Landschaft zu genießen, ohne seine Mitmenschen zu stören oder auch nur ein Stück Papier auf den gepflegten Wiesen zu hinterlassen, den See zu verunreinigen, an dem sich eine ganze Stadt erfreut. »Ist hier nicht der Ort«, seufzt der alte Herr gerade so leise, daß er das Gespräch auf dem Teppich nicht unterbricht, »den der gepriesene Scheich Saadi beschrieb: ›Das Paradies ist dort, wo kein Mensch fügt dem andern zu Pein / Jeder Mensch blüht und den andren in Frieden lasset sein.‹« Warum, fragt der alte Herr sich wieder im stillen, haben diese Franken, obwohl sie ungläubig sind, eine Gesellschaft hervorgebracht, die Gott gemäßer ist als

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