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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Golf: Bitte erklären Sie Ihrem Sohn, daß die Schweiz ein Rechtsstaat ist und wir als seine Repräsentanten nicht einfach jemanden vorladen, geschweige denn ihn verdächtigen dürfen, ohne daß uns irgendwelche Hinweise für seine Schuld vorliegen. Wenn wir das täten, hätte der Betroffene das Recht, den Staat zu verklagen und Entschädigung dafür zu fordern, daß wir ihm seine Zeit gestohlen und ungerechtfertigt beschuldigt haben. Ja, er könnte uns seinerseits wegen Verleumdung anklagen. Ich brauche also zumindest Indizien, die Ihre Anschuldigung untermauern, bevor ich etwas unternehmen kann. »Lieber Leser«, wird der alte Herr zwanzig Jahre später fragen, »sehen Sie, auf welchem Stand das Justizwesen anderer Länder ist? Sehen Sie, wie korrekt, freundlich und vollkommen rational sich dieser junge Beamte verhält? Und dann schauen Sie sich unsere eigenen Richter an, die die Menschen ohne irgendwelche Beweise, nur auf Zuruf oder weil ihnen Geld zugesteckt worden ist, auf die Anklagebank zerren lassen. Schauen Sie, wie bei uns die Unschuldigen Qualen, Beschimpfungen, Gefängnis, Folter und Ehrverletzungen erdulden müssen. Wohin sonst soll das führen als zum Aufstand, zur Revolution, zum Pessimismus, zur Mißgunst oder allenfalls dazu, sich resigniert den metaphysischen Dingen zuzuwenden und die Welt zu fliehen? Ist jemand, der solche oder noch schlimmere Ungerechtigkeiten erfährt, der in eine Falle geraten ist, die ihm das eigene Land, der eigene Staat, die eigenen Mitmenschen gestellt haben, ist so jemand dafür zu rügen, daß er die Hoffnung verliert, allen Autoritäten mißtraut und sich von seiner Heimat abwendet? Nein, das ist er nicht, das kann man niemandem zum Vorwurf machen. Wie hat der gepriesene Scheich Saadi gesagt: ›O Saadi, stolz aufs Vaterland zu sein, ist ein herrlich Wort / Nicht mal sterben aber wollt ich an so jammervoll Ort.‹« Spätestens jetzt wäre es wichtig zu wissen, wann Großvater die Selberlebensbeschreibung verfaßte und ob er sich also vor oder nach der Islamischen Revolution an den jungen Beamten der Genfer Küstenwache erinnerte, der allen iranischen Richtern überlegen war. Die politische Situation deprimierte ihn schon seit dem Putsch von 1953, wie die Mutter etwas zu nachdrücklich festhielt, dennoch glaube ich, daß er noch etwas anderes als die allgemeinen Zustände vor Augen hatte, etwas, das ihn direkt und aktuell betraf: eben das Unrecht, das ihm nach Aussage seines gelehrtesten Freundes das Genick gebrochen hatte. Er muß oder könnte den Bericht über die Reise zu den Franken nach der Besetzung Tschamtaghis erstattet haben, nach der Audienz beim Ajatollah Chademi, dem er gegen alle Vorsätze die Hand geküßt, und dem Urteil, daß der bestechliche Hodschatoleslam Mirza gefällt hatte. Vielleicht meint Großvater auch die eigene Flucht in die Metaphysik, die Flüche auf den weltlichen und den überweltlichen Herrscher, die man ihm nicht zum Vorwurf machen möge.
    Die Nummer zehn dachte, daß zwischen eins und neun plus Begleitung und Partnern wenigstens einer sei, der vor dem Grab des Apostels innehält, wenn schon niemand mehr in Anbetung auf die Knie sinkt wie er, der nach dem Gebet so tat, als habe er sich die Schnürsenkel gebunden. Wir standen schalldicht abgeschlossen von den übrigen Besuchern des Petersdoms in einem unterirdischen Gang, fast einer Gasse, einer Totengasse aus Ziegelwänden wie von Häusern und Türen zu den Familiengrüften mit Sarkophagen und Urnenfächern, auf denen die heidnischen Inschriften durch ihre strenge Ordnung zu erkennen sind, während die christlichen Inschriften wie bene merenti, »wohlverdient«, deposito, »verstorben«, oder dormit in pace , »in Frieden schläft«,statt des später üblichen requiescat in pace , »er ruht in Frieden«, eher nachlässig wirken. Ein Witwer erinnert an die Schönheit und Unschuld einer Aemilia Gorgonia, die im Alter von achtundzwanzig Jahren, zwei Monaten und achtundzwanzig Tagen viel zu früh starb; ein Flavius Istatilius Olympus war »ein guter Mensch, zu allen freundlich, auf seinen Lippen stets einen Scherz«, an den Wänden rot und azurblau griechische, römische und ägyptische Malereien, weil die römische Gesellschaft multikulturell gewesen sei, wie mehrfach der Priester betonte, der uns kompetent führte,

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