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welche Angelegenheit GroÃvater gehabt haben könnte, daà er in seinem Alter, etwa siebzigjährig, allein mit dem Zug nach Frankfurt fuhr. Vielleicht hing es mit der Familie seines Neffen oder seiner Nichte zusammen, die wegen der Anfeindungen gegen die Bahais nach Deutschland ausgewandert waren. Vielleicht hatten sie sich in Frankfurt angesiedelt, nachdem ihr Kind gestorben war. Könnte der Neffe nicht der Cousin meiner Mutter aus Rüdesheim gewesen sein, mit dem wir in Frankfurt Tschelo Kabab aÃen? Oder verwechselt GroÃvater die Städte und waren die drei Personen im Gerichtssaal, die so mysteriös schwiegen, nicht gewöhnliche Siegener? Womöglich deutete ich zuviel in seine gewollt oder ungewollt komischen Ausführungen zum deutschen Justizwesen, wenn ich es mit dem Urteil in Verbindung bringe, das gegen ihn erkauft wurde. Auch unabhängig von seinem persönlichen Fall ist für einen Schiiten, der sich am rationalistischen Korankommentar des Fachr od-Din Razi orientiert, die Gerechtigkeit Gottes und damit der Welt der Pfeiler, an dem zu rütteln das gesamte Glaubensgebäude ins Wanken bringt. Die Gerechtigkeit gehört anders als bei den Sunniten zu den fünf Grundprinzipien der schiitischen Dogmatik, die den Gläubigen vom Ungläubigen unterscheiden. Jede Ungerechtigkeit ruft damit sofort und unausweichlich die Frage der Theodizee hervor. Oder wie der gepriesene Saadi sagt: »Jedes Urteil muà gerecht sein, das der Herr dem Sklaven spricht; / Nichts weiter kann der Sklave fordern, denn dem Herrn ist das Gericht!« Und ausgerechnet die Gerichte waren und sind in Iran exemplarisch die Schauplätze, an denen das Recht des Stärkeren nackt gilt, immer laut, immer dreckig, alles Mobiliar heruntergekommen, die Wände beschmiert, in allen Korridoren ein Gedränge von Menschen, die nicht wissen, wann ihr Fall verhandelt wird, den Richter abpassen wollen, die Justizbeamten bedrängen, sich mit ihrem Anwalt laut besprechen oder Wortgefechte mit ihren Gegner liefern und stets ihre Verwandtschaft mitgebracht haben wie eine Anhängerschaft im Stadion. Womöglich deutete ich zuviel in seine europäischen Gerichtsbesuche, wenn ich glaube, daà der Zustand der iranischen Justiz für GroÃvater auch über Gott richtete.
Einige Sekunden genieÃe ich die Illusion, der alte Herr habe die meterhohen elektrischen Kerzen eingeschaltet, damit ich besser sehe. Dann bemerke ich die drei Gläubigen, die auf den Kirchbänken jenseits des Mittelgangs zum Gottesdienst versammelt sind. Nach den Gebetsbüchern bemessen, die der junge Priester auslegt, sind nicht viel mehr Besucher zu erwarten. Zum Scherz schlägt er dem alten Herrn, dessen Anzug zu groà und dessen Kragen zu weit geworden ist, mit einem eingerollten Karton auf den Kopf. Natürlich schauen sie zu mir, der seinen Laptop aus dem Rucksack geholt hat. Eigentlich wollte ich zur Kirche SantâAgostino, um die heilige Ursula mit der Madonna der Pilger zu vergleichen, aber dann stieg ich genau vor San Lorenzo in Lucina aus dem Bus, der mir zum ersten Mal in Rom nicht vor der Nase abgefahren war, so glücklich hatte der Tag bereits begonnen. Als ich mich auf der Karte orientierte, empfahl mir der Kunstreiseführer einen Blick auf die Kreuzigung von Guido Reni, die eines seiner Meisterwerke sei. Ich konnte mich an kein anderes Meisterwerk Renis erinnern, assoziierte nur Andacht, Amen, Antipode Caravaggios, aber dankbarer bin ich dem Kunstreiseführer selten gewesen. Auf dem Photo im Kunstreiseführer hat das Gemälde etwas von den frommen Karten, die die Zigeuner vor den Kirchen für fünfzig Cent verkaufen; als gewaltige Leinwand auf dem Hochaltar der Barockkirche, wo schwarz-goldene Säulen, ein roter Theatervorhang, mollige Engel, ein Blumengebinde aus Plastik und die meterhohen elektrischen Kerzen den Kitsch so sehr steigern, daà dessen Wahrheitsmoment unschön wie in allen Räuschen kenntlich wird, ist Renis Kreuzigung ein Aufruhr, gerade indem es der abgeschmackten Verklärung des Schmerzes widerspricht. Gewià stöÃt mir die Lust, die katholische Darstellungen seit der Renaissance an Jesu Leiden haben, auch deshalb so auf, weil ich sie von der Schia kenne und nicht kenne. Ich kenne sie, weil das Martyrium dort genauso exzessiv bis hin zum Pornographischen zelebriert wird, und ich kenne sie nicht, weil genau dieser Aspekt der Schia in GroÃvaters Glauben,
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