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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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aus, aber auch im Auftrag Tausender Menschen, die ihn für unschuldig halten und darin mit mir einer Meinung sind, vor dem einzig wahren und ewigen Zufluchtsort: O Gott, wahrlich, wir wissen über ihn nichts als Gutes, aber Du weißt es besser. O Gott, wenn es ein guter Mensch war, vermehre ihm das Gute, und wenn es ein schlechter Mensch war, sehe von seiner Schlechtigkeit ab und erbarme Dich seiner. « Die Sätze, die ich kursiv gesetzt habe, sind arabisch und lassen eine religiöse Bildung erkennen, über die zum Beispiel Großvaters gelehrtester Freund verfügt. Es ist kein Zitat aus dem Koran, sondern wahrscheinlich ein Gebet, das am Grab gesprochen wird. Auch die Kausalität zwischen dem Unrecht und dem Tod ist ein Indiz, daß die fremde Feder dem gelehrtesten Freund gehört, der bei meinem Besuch im letzten Frühjahr wörtlich davon sprach, daß der Streit um Tschamtaghi Großvater das Genick gebrochen habe. Äußerst irritierend ist das Wort »schuldlos«. Ich schlage vor, es im Sinne von tugendhaft oder ohne Fehl und Tadel zu verstehen, aber der Schwiegervater sagt, daß wirklich Schuld gemeint sei, also etwa in einem Rechtsfall, für ein Unglück oder bei einen Streit. Es ist mir neu, daß gegen Großvater irgendwelche Vorwürfe, Beschuldigungen oder gar eine Anklage vorlagen, und zwar offenbar solche Vorwürfe, Beschuldigungen oder gar eine Anklage, die die fremde Feder als bekannt voraussetzt. Ich würde die Mutter fragen, worauf der Eintrag auf der ersten Seite anspielt, wenn ich mich damit nicht verriete und sie fortan ihre Auskünfte zensierte. Den Schwiegervater bitte ich, ebenfalls Stillschweigen zu bewahren. Die wichtige Frage, wann Großvater die Selberlebensbeschreibung verfaßte, ob vor oder nach der Revolution, kann ich immer noch nicht beantworten, und jetzt bin ich fast schon am Ende. Soviel wird immerhin klar, daß Tschamtaghi noch nicht besetzt war. Weil Großvater die Einladung eines Enkels in der Hand hielt, der 1980 keine Kindergeburtstage mehr gefeiert haben dürfte, bin ich schon drauf und dran zu glauben, daß er die Selberlebensbeschreibung doch vor der Revolution beendete, die Erinnerung meiner Mutter also trügt. Andererseits würde Großvater nicht mit solcher Akribie seinen Anspruch auf Tschamtaghi begründen, wenn dieser nicht bereits bestritten worden wäre. Schließlich erwähnt er deutsche Freunde des heutigen Orthopäden; dessen Geburtsjahr bedacht, müßten sie Tschamtaghi eher nach der Revolution besucht haben. Obwohl Großvater sich in Details wie der Größe jedes einzelnen Wasserbeckens, der Länge des Zauns oder den Verlauf der Wasserkanäle ergeht, die dreißig Jahre später nicht mehr aussagen als zweihundert Jahre später die Wäschelisten Hölderlins, ist der Schwiegervater so gefesselt, daß er mit mir – und es ist spät geworden, gegen Mitternacht – noch das nächste Kapitel lesen möchte. Es handelt von Hadsch Mollah Schafi Choí, Gott möge seinen Standplatz erhöhen, und verlängert die Familiengeschichte bis ins Mondjahr 1210 nach der Hidschra, also bis ins achtzehnte Jahrhundert. Ich hatte es immer so verstanden, daß der Ur- oder Ururgroßvater aus dem aserbaidschanischen Choy nach Isfahan gewandert sei und stromaufwärts von Isfahan Land erworben habe. Tatsächlich ist bereits Großvaters Urgroßvater ausgewandert und meine Generation bereits die sechste in Isfahan. »Sent: 23-Dec-2008 22:13:17 lieber freud,einander sehen wenn du zurück wäre so schön,sei ohne sorge,ja es ist alles schwer.drum mögen wunder geschehen,daß ich die kranken teile bezwinge, das leben wider fassen darf, in anderer zeit kraft.der zeit, liege u schlafe ich ganz viel dess tages.das kortison macht so schlapp.ängste steigen auf u träume.phase für phase scheint alles eine bewegung zu folgen die vorgegeben u in der man sich neu entdecken muß!jetzt noch offen ob,ja wo die dritte chemo sein soll.heilkundler begleiten auch diese schritte.sonst würd ich es nicht bis hierher geschafft haben.ich lasse wider von mir hören und sende oft, still, liebe grüße an dich und deine familie. ich umarme euch« Erst nach der Lektüre bemerken der Enkel und sein Schwiegervater, daß die Seiten erneut vertauscht sind und das Leben des Hadsch Mollah Schafi Choí dem Kapitel über Tschamtaghi eigentlich vorangeht.

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