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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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mir am Grab unseres Vorfahren zu beten. Damals interessierte ich mich nicht sonderlich für diese alten Geschichten. Jetzt weiß ich, wer dort liegt. Sein Ansehen oder sein Einkommen müssen immens gewesen sein, allein das Haus, das Hadsch Mollah Schafi Choí in der Darugheh-Gasse erwarb, mit einer Grundfläche von zweitausend Quadratmetern so geräumig, daß er es sich leisten konnte, einen sogenannten russischen Saal zeit seines Lebens nicht zu betreten, weil er einst vor den Russen geflohen war. Ich nehme an, daß es kein Privatpalast war, sondern zugleich das Amt, von dem aus er den Fünften seiner Anhänger verwaltete. Den Hof schmückte ein kleineres Becken von fünf mal acht Metern und den Garten ein See von etwa zwanzig Metern Durchmesser. Großvater ist nicht sicher, ob das Gebäude noch immer steht. Wie er hört, hat es die Denkmalschutzbehörde von den späteren Eigentümern übernommen oder jedenfalls als Denkmal registriert. Sieben Kinder hinterließ Hadsch Mollah Schafi Choí: die Söhne Abdolhossein, Mohsen, Hassan, Ali und Mohammad Taghi, der mein Ururgroßvater ist, sowie die Töchter Malak Soltan und Fatemeh Soltan. Bis auf den Zweig des vierten Sohns Ali, der nach Indien auswanderte, läßt sich der Stammbaum bis in die Gegenwart vollständig verfolgen, schreibt Großvater und schätzt die Zahl der Schafizadehs, der »Nachfahren des Schafi«, die heute in Isfahan leben, auf ungefähr tausend. Zum Glück verzichtet er diesmal darauf, alle Namen anzuführen. Wie es seine Art ist, betont Großvater, daß die meisten Berichte über das Leben des Hadsch Mollah Schafi Choí mündlich überliefert und daher wissenschaftlich keineswegs gesichert seien. Und überhaupt: Wer immer Hadsch Mollah Schafi Choí war, welchen Ruhm er sich erwarb – zweihundert Jahre später gebe es keinen Grund, stolz zu sein oder sich gar mit ihm zu brüsten, schließlich sei man nur für seine eigenen Werke verantwortlich, nicht für seine Herkunft.
    Die Kartons verschickt, der Wagen beladen, Öl und Kühlwasser kontrolliert, zu Ehren der Mutter selbst das Obst für die morgige Reise bereits verstaut. Als vorletzte Arbeitshandlung an der Deutschen Akademie in Rom hat die Nummer zehn die Musik für die Silvesterfeier zusammengestellt, die bereits mit dem Abendessen begonnen hat. Getanzt wird sicher nicht vor elf, so daß noch ein, zwei Stunden bleiben, um den Musiker in München anzurufen und den ersten und wahrscheinlich letzten Neujahrsgruß an die ehemalige Freundin von Nummer sechs zu simsen. Außerdem muß er noch die Photos und Postkarten abnehmen, die er gegen die Gewohnheit an die Wand geklebt hat. Für den Schluß aufgehoben hat er sich die Photos und Postkarten, die er im Roman, den ich schreibe, noch unterbringen wollte, in Zeichenblockgröße die beinah schwebende Madonna der Pilger mit dem riesenhaften Jesusbaby und dem flüchtig gemalten, gleichsam unscharfen Gesicht des Betenden, das genau in der Mitte plaziert ist, als ob, als ob – ja, also ob was? Seit er zum ersten Mal vor dem Bild in Sant’Agostino stand, fragt er sich, was es bedeuten könne, daß ausgerechnet das Zentrum verschwommen ist, nicht einmal der äußerste Rand des linken Auges zu erkennen, obwohl es der Perspektive des Betrachters widerspricht. Daß die Hose des Betenden randlos in die Haut fließt, muß mit dem gleichen Geheimnis zu tun haben, für das sich die Kunstgeschichte nicht interessiert. Dafür klärt sie auf, daß Matthäus gar nicht der Junge am Ende des Tischs sei, der auf sein Geld starrt, sondern der Bärtige, der mit dem Finger angeblich auf sich selbst zeigt. Die Theorie der Berufung, die Nummer zehn dennoch an die Zeitung geschickt hat, bricht damit vollständig zusammen. Zugegeben sind die Argumente der Minderheit unter den Kunstgeschichtlern dürftig, die seine Meinung teilt. Alle biblischen Umstände und szenischen Signale sprechen für den Bärtigen, und doch hat Caravaggio das Bild bestimmt nicht zufällig so gemalt, daß beide Finger zumal für den Betrachter in San Luigi dei Francesi, der die Szene von links unten sieht, auf den Jungen am Ende des Tisches zu weisen scheinen. Offenbar führte Caravaggio die Ambivalenz oder den Irrtum bewußt herbei, den die Kunstgeschichtler aufdecken. Als nächstes legt die Nummer zehn Tizians veronesische

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