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oder aus dem Fenster, ging auf den Gang und kehrte ins Zimmer zurück, ging auf einen Kaffee in die Cafeteria, blätterte im dritten Band der gesammelten Werke Hölderlins, ohne eine Stelle zu finden, die in diesen Absatz passen würde, hörte mit einem Ohr zu, was der Vater zum dritten oder vierten Mal über den Hergang der Krise sagte, bis er zur Erleichterung der Eltern, die sich für seine Langeweile schuldig fühlten, den Laptop aufklappte. Zeit, sagte die Mutter, Zeit sei das einzige, was sie im Ãberfluà hätten, und nahm den Vater mit auf den Flur, damit der Sohn seine Arbeit tue. Wer jung sei, für den sei jede Minute kostbar. Dem Sohn erscheint der Gedanke absurd, daà die Zeit um so nutzloser wird, je weniger von ihr bleibt. Gern hätte er die Mutter danach gefragt, doch nun ist sie mit dem Vater in der Cafeteria und gönnt sich den Kaffee und das Teilchen, zu dem er sie den ganzen Vormittag schon drängte. Wenn die Eltern ins Zimmer zurückkehren, wird der Sohn mit ihnen wieder über den Automobilclub sprechen. Die Bemühungen, als bald Vierzigjähriger mit den Eltern unter Erwachsenen zu reden, scheitern immer häufiger an dem Umstand, daà das Massaker offenbar damit beginnt, das Gesagte fortlaufend zu wiederholen. Wenn man selbst geworden ist wie sie, sind sie nicht mehr, was sie waren. Der Vater selbst bekennt, daà er nicht mehr so klar sehe wie früher. Er war immer derjenige, der Entscheidungen traf und gegen alle Widerstände durchsetzte, vor allem gegen den Willen der Mutter und häufig genug der Söhne, der früher Vorgesetzten und Kollegen, davor der Eltern und Schwiegereltern, Mittelstürmer eben mit dem angeborenen Zug zum Tor. Jetzt beteuert er vielfach, wie dankbar er dem Jüngsten sei, der ihm alle Entscheidungen abnehme, und merkt nicht einmal, wie oft er sich schon bedankt hat. Natürlich sind die Eltern nicht weniger klug als früher, lebensklüger allemal, allein, es fällt ihnen schwer, den Punkt hinter einen Gedanken zu setzen, besonders dem Vater. Der Sohn traut sich nicht zu sagen, daà er die Argumente gegen den Rücktransport mit dem Automobilclub schon dreimal gehört hat und statt dessen über etwas reden möchte, das für sie von gröÃerer Bedeutung ist, mit Zeit oder ohne. Die Mutter ist anders. Im spanischen Zug fragt sie Mitreisende, ob sie Lust hätten auf ein Gespräch. Mit ihren Schwiegertöchtern kann sie sich stundenlang unterhalten. Mit den Söhnen gelingt es seltener, mit dem Jüngsten fast nur in Krisen, den Krisen des Vaters, den Krisen der Frau, den Krisen seiner Ehe, also relativ oft, wenn der Jüngste es recht bedenkt. Mit der Rückkehr des Vaters ins Ferienhaus ist das Handling beinah abgeschlossen. Sobald der Vater zehn Tage nicht geblutet hat, fliegt ihn der Automobilclub nach Deutschland, also voraussichtlich am Mittwoch. Die Mutter kann kaum glauben, daà auch ihr Ticket übernommen wird.
Unter den Büchern auf dem Schreibtisch befindet sich auÃerdem ein Polyglott-Reiseführer für Afghanistan von 1974, abgestempelt von der Bibliothek der Bundeswehrschule Bad Ems. Ein Jahr zuvor hatte Mohammad Daoud seinen Vetter und Schwager Zahir Shah abgesetzt und dem Volk gröÃere Rechte versprochen. Heute wirkt schon die Verfassung von 1964 wie eine Utopie, die die Gewaltenteilung und das Wahlrecht der Frauen einführte. »Malerisch« nennt der Reiseführer die bunten Gewänder der Paschtu-Frauen; der theatralische Effekt würde durch reichen Silberschmuck noch erhöht. Die Tadschiken hingegen trügen in den Städten meist europäische Kleidung. Der Flug mit Lufthansa und weiter mit Iran Air nach Kabul kostete einschlieÃlich der Ãbernachtung in Teheran 1270 DM in der Touristenklasse für eine Strecke; 1. Klasse 2035 DM , hin und zurück das Doppelte. Detailliert sind die Möglichkeiten und deren Dauer aufgeführt, mit dem Bus (ebenfalls über Teheran), der Bahn (über Bagdad oder Moskau), dem Auto (durch Jugoslawien) und dem Schiff (über Karatschi) nach Afghanistan zu reisen. Der Stadtplan des Polyglottdürfte noch die gröÃte Ãhnlichkeit mit der Gegenwart aufweisen, die Maiwand-StraÃe, die Ansari-StraÃe, die Sher-Shar-Mina. Ob der Kopf eines Buddhas aus Hadda, der im Reiseführer abgebildet ist, noch im Museum steht? Ob das Museum noch steht? Paghman, die 22 Kilometer entfernte Sommerfrische
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