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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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manchen Stellen gefordert ist, ergänzen sie um das Arsenal der Todeswünsche. Zum Finale wird der Führer plötzlich ganz still und vermag eben dadurch die Gefühle noch einmal anzuheizen, die den Siedepunkt doch schon längst erreicht haben. Diese Zurücknahme, das Senken der Stimme auf dem Höhepunkt, um einen weiteren Höhepunkt zu erreichen, ist brillant, der Berichterstatter kann es nicht anders sagen. Der Führer spricht seinen Vorgänger an, als spräche Imam Hossein zum Propheten: »Oh unser Herr, oh unser Vormund!« Dem Weinen nach zu schließen, ahnen alle Zuhörer, was folgt: »Was ich tun mußte, habe ich getan; was ich sagen mußte, habe ich gesagt.« Imam Hossein zieht in die Schlacht von Kerbela: »Ich habe ein wertloses Leben.« Auch der Nachbar schluchzt ob dieser Demut laut auf. »Ich habe einen geschädigten Körper«, steigert der Führer das Mitleid der Umstehenden ins Hysterische, in dem er auf seinen Arm anspielt, der seit einem Bombenattentat gelähmt ist. »Ein wenig Ehre habe ich, die ich Ihnen verdanke. Mehr besitze ich nicht und werde es auf dem Wege dieses Islams und der Revolution opfern. Was ich besitze, gehört Ihnen. O unser Herr, o unser Vormund! Verrichten Sie Bittgebete für uns! Sie sind unser Oberhaupt, Sie sind Oberhaupt dieses Landes, Sie sind Oberhaupt dieser Revolution; Sie sind unsere Stütze. Mit Macht werden wir diesen Weg fortschreiten. Unterstützen Sie uns mit Ihren Bittgebeten und Mahnungen auf diesem Weg.« Dann rezitiert der Führer die Sure 110, »Wann Hilf’ von Gott kommt und der Sieg«, bevor er schließt: »Friede sei mit euch, die Barmherzigkeit Gottes und Sein Segen.« Manche der älteren Herren kreischen regelrecht und zittern am ganzen Leib, auch der Nachbar. Sie haben gehört, was sie hören wollten und seit Jahren nicht mehr so klar, so simpel, so aggressiv klang: die Welt als Kampf von Gut und Böse, von wir gegen sie. Nach dem Gebet ziehen viele skandierend durch die Straßen, die einen in diese, die anderen in jene Richtung, erkennbar spontan, aber noch viele Häuserblöcke entfernt angetrieben von dem Einpeitscher, der wieder ans Mikrophon getreten ist. Wer von heute an öffentlich schweigt, lehnt sich nicht mehr gegen die Regierung, sondern gegen den Führer auf: In der Lesart der heutigen Islamischen Republik bedeutet dies einen »Krieg gegen Gott« und ist es ein todeswürdiges Verbrechen. Leider scheinen die Romane von Albert Camus das einzige zu sein, was der Revolutionsführer von der Offenheit des Großajatollahs Seyyed Mohammad Hadi Milani bewahrt hat, der auch Großvaters Quelle der Nachahmung war.
    Die Studenten und Journalisten, mit denen der Berichterstatter am Morgen noch sprach, sind abends nicht mehr zu erreichen, genausowenig die Familie des jungen Mannes, der unter den böswillig geheuchelten Führerrufen im Studentenwohnheim erschlagen wurde. Stand Freitag, der 19. Juni 2008, sind fünfhundert Wortführer der Opposition verhaftet, die Schweigenden nicht mitgerechnet. Um so überraschter ist der Berichterstatter, als abends der frühere Innenminister zurückruft, ein Geistlicher im Range eines Hodschatoleslams, der Jahre im Gefängnis saß und unter allen Reformpolitikern der einzige ist mit unbestrittener credibility außerhalb der eigenen Bewegung. – Wie ist Ihre Prognose? möchte der Innenminister zunächst wissen, der den Berichterstatter im fensterlosen Versammlungsraum seines Hauses empfängt. Der Berichterstatter vermutet, daß die Demonstranten einen offenen Kampf nur verlieren könnten, nicht allein wegen der Übermacht der anderen Seite, ihren organisatorischen und propagandistischen Vorteilen, ihren Waffen und der Bereitschaft, sie einzusetzen: Die beim Freitagsgebet hätten ihre Geschichte zu verlieren und seien daher zu allem bereit; hingegen die Schweigenden opferten sich in der Mehrheit nicht mehr für ein politisches Ziel, eine Ideologie oder einen Führer auf, was eigentlich ein Fortschritt sei. Und selbst wenn morgen die Studenten auf die Straße gingen, die der Geschichte ihre Zukunft entgegenstellten, stünden ihnen doch nicht die Bürger zur Seite, die Arbeiter, der Basar. Der frühere Innenminister ist optimistischer: Wer sagt denn, daß die Drohung wahr gemacht wird? Wer so aggressiv spreche und sich ohne erkennbaren Grund so eindeutig

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