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Punkt 16 Uhr mit einer Wasserflasche aus einem Lebensmittelgeschäft tritt, strömen die Menschen aus mehreren StraÃen auf den Platz und gehen in einer Schlange, die nicht mehr aufhören will, auf dem schmalen Bürgersteig schweigend in Richtung Freiheitsplatz, zwanzig, dreiÃig Jahre alt die meisten, wahrscheinlich Studenten, aber auch Geschäftsleute mit Aktenkoffer, Professoren oder Intellektuelle mit grauem Kinnbart, ältere Frauen im schwarzen Tschador, überhaupt so viele Frauen wie an allen Tagen, ohne selbstbedruckte Blätter diesmal. Die ersten machen das V-Zeichen, dann wagen es nach und nach die anderen, bis alle Hände in den Himmel zeigen. An den Helmen ist jetzt das Visier heruntergezogen. Dem Berichterstatter wird bewuÃt, daà er womöglich der einzige Fremde ist, der einzige Zeuge: jedenfalls hat er auch heute keinen Ausländer erkannt, Kameras schon gar nicht. Heute abend wird er nach Deutschland fliegen, beschlieÃt er, und den Onkel nicht mehr in Isfahan besuchen, von dem er sich das letzte Mal nicht verabschieden konnte, von dem er sich damit wahrscheinlich nie mehr verabschieden wird, es sei denn, das Regime stürzt. Zu seiner Verblüffung hat das Handy noch Empfang. Der Berichterstatter geht zurück in den Lebensmittelladen, um bei der Reporterin anzurufen, deren Mutter gestorben ist. Innerhalb von fünfzehn Sekunden begreift die Reporterin, daà sie den Berichterstatter morgen abend vor die sagen wir zehn Millionen Deutschen bringen muÃ, dann bricht das Telefonat ab und ist die Leitung tot. Der Berichterstatter verabschiedet sich vom Lebensmittelhändler, der nichts zum Telefonat in deutscher Sprache gesagt hat, und folgt dem Schweigemarsch vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus, von wo er besser sieht. Eine Motorradstaffel fährt heran. Zwei der Motorräder biegen auf den schmalen Bürgersteig: Die Fahrer geben Gas, die Beifahrer schlagen mit den Knüppeln oder Holzlatten auf die Menschen, die sich an die Häuserwand drängen oder in den Graben springen, der StraÃe und Bürgersteig trennt. Schreie, Kreischen, empörte wie flehende Rufe. Von vorn rückt ein weiteres Antikrawallkommando an und sorgt für einen Stau. Die Demonstranten fliehen in alle Richtungen, suchen Schutz zwischen den Autos, rennen in die SeitenstraÃen oder zwischen den Autos hindurch, springen über die beiden Zäune, die die Busspur in der Mitte abtrennen, und erreichen den gegenüberliegenden Bürgersteig, die Knüppel hinterher. Ohne zu begreifen, was er tut, sprintet der Berichterstatter in einer Gruppe von vielleicht fünfhundert Menschen um die nächste Ecke. Weil von vorn schon das nächste Kommando auf sie wartet, verteilen sie sich an der ersten Kreuzung links und rechts in den Gassen. Aus den nächsten SeitenstraÃen reihen sich weitere Demonstranten in den Zug. Bald sind es schon wieder mehrere tausend, die mit dem V -Zeichen parallel zur HauptstraÃe laufen. Selbst wenn der Berichterstatter wollte, könnte er kein Unbeteiligter mehr sein, hinter ihnen die Knüppel, vor ihnen hilf uns Gott. Plötzlich brennen die Augen und meint er zu ersticken, wieder Rufe, Kreischen, als sich neben ihnen eine Tür öffnet. Zehn, zwölf anderen Demonstranten hinterher, hechtet er in den Hof eines zweistöckigen Hauses und findet sich in einem Hausflur wieder. Die Greisin im bunten Tschador, die aufgeregt zwischen ihnen umhergeht, dürfte die Hausherrin sein. Wir brauchen Feuer! schreit einer, so leise er kann. Ein anderer: Kein Wasser an die Augen, kein Wasser! Die Greisin bringt einen Stapel alter Zeitungen, die sie auf dem Steinboden ihres Flurs anzündet. Jeder steckt ein Blatt ins Feuer und hält es sich vor die Augen. Auf dem Boden sitzt ein Mädchen und weint hysterisch, jemand anders hält den Kopf aus der angelehnten Tür und übergibt sich. Der Rauch hilft: Bis auf das Mädchen, das weiter weint, beruhigen sich alle; anschlieÃend beruhigen alle das Mädchen. Jemand hilft der Greisin, die Asche wegzukehren, die anderen gehen auf den Hof, wo sich andere Demonstranten ausruhen, oder zurück auf die leere StraÃe â nur in welche Richtung? Sie sollen sich Richtung Freiheitsplatz halten, weià jemand, also gehen sie nach rechts und der Berichterstatter hinterher, schon weil die Chance, den Knüppeln zu entgehen, in der Gruppe gröÃer ist, da man in verschiedene Richtungen
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