Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Plastikpantoffel oder Schuhe mit runtergeklappten Fersen, damit die Füße bequemer rausschlüpfen. Die Mode der Frauen variiert nur danach, ob sie sich den schwarzen Tschador vor die Nase halten, unter dem schwarzen Tschador zusätzlich ein schwarzes Kopftuch tragen oder beides. Das Durchschnittsalter dürfte dreißig Jahre über dem der Schweigenden liegen: Wer hierher kommt, verteidigt die Revolution, für die er einst gekämpft, für die er in den Krieg gezogen, verteidigt die gefallenen Söhne oder Brüder, verteidigt seine eigene Biographie. Für die Funktionäre, an ihren einförmigen Anzügen, Bärten, Brillen und Frisuren sofort zu erkennen, mag auch Materielles auf dem Spiel stehen; den älteren Männern, die weder reich geworden sind noch durch einen Regierungswechsel zu verarmen drohen, geht es um die geistigen Werte, die der Revolutionsführer stets beschwört, weil der Westen sie vor zweihundert Jahren verloren habe. Ihnen hat die islamische Revolution Würde verliehen, das Selbstbewußtsein, sich vor niemandem mehr zu ducken. Ihre Kinder allerdings fehlen. Vielleicht sind sie unpolitisch wie der Mobilfunkhändler, denen der Präsident nur imponiert; genauso könnten sie zu den Studenten gehören, die gegen ihn revoltieren. Als das Programm mit einem Einpeitscher beginnt, der zehn Minuten lang die üblichen Parolen variiert, ist der Berichterstatter der einzige, der nicht die Faust hebt. Auch wenn ihn niemand zu beachten scheint, ist es beängstigend genug, in einer Menge von sagen wir mal einer Million zu stehen und als sagen wir mal einziger nicht mitzuschreien. Der Koranrezitator, der auf den Einpeitscher folgt, gibt dem Berichterstatter Gelegenheit, sich leise mit seinem Nachbarn zu unterhalten. In gütigem Ton erklärt ihm der alte Herr, zu welch unfaßbaren Lügen sich die Schweigenden verstiegen haben, um den überragenden Wahlsieger zu diskreditieren. Akzeptiert man die Grundvoraussetzung, daß bei der Auszählung alles mit rechten Dingen zuging, klingt alles Weitere so logisch wie in jeder Verschwörungstheorie. Später wird der Führer sogar die ermordeten Studenten als Märtyrer beweinen, erschlagen von Konterrevolutionären in gestohlenen Uniformen. Die Niedertracht dieser Feinde gehe so weit, daß sie Führer-Parolen gerufen hätten. Nach dem Gebetssänger tritt erst ein Knabenchor mit vaterländischen Weisen auf, dann ein Elegiensänger im traditionellen Stil, dessen Verse allerdings nicht das Drama des Imams Hossein beweinen, sondern die heutige Auseinandersetzung zum Drama Hosseins stilisieren. Nie wieder wird ein Imam gegen die Übermacht der Feinde verlieren, weil ihn die Gläubigen nie wieder im Stich lassen werden, ein Freudengesang eigentlich, dennoch weinen ringsum die alten Herren wie auf Knopfdruck: Die Passion Hosseins und die Hinterlist der Briten, Amerikaner, Zionisten und Heuchler sind den Zuhörern in allen historischen Stadien bis in die Gegenwart so vertraut, daß Anspielungen genügen. Als die Männer gefühlig genug geworden sind, tritt der Führer auf, der 1963 neben Großvater gebetet haben könnte. Dem dialektischen Verlauf seiner Argumente und der Subtilität der Zwischentöne merkt man die lange Ausbildung an; die schiitischen Seminare sind die einzigen Lehrzentren der Welt, deren Unterrichtsplan seit dem Mittelalter ohne Unterbrechung bis heute auf dem aristotelischen Kanon von Rhetorik, Grammatik und Logik beruht. Im wirkungsvollen Kontrast zu den Vorrednern und der Dramatik des Ausnahmezustands, in dem sich die Nation befindet, beginnt der Führer mit der Ruhe dessen, der weiß, daß die Hörer an seinen Lippen hängen. Die Zuhörer redet er so direkt und mit warmer Stimme an wie ein väterlicher Freund, beinah wie vorhin der Nachbar, der dem Berichterstatter die Weltkonspiration darlegte. Wie jeder gute Rhetoriker hält der Führer sie im unklaren, worauf er hinauswill, zeigt Verständnis auch für die andere Seite, präsentiert sich als unparteiischer Richter, damit das Urteil um so wirkungsvoller ist, zu dem er nach der spannungsvoll gedehnten Exposition ansetzt. Er hat sich entschieden: für die Zuhörer und gegen die Schweigenden. Die Männer ringsum brauchen keinen Einpeitscher mehr, damit sie alle paar Minuten Tod! schreien, Tod Amerika, Israel, den Heuchlern und so weiter. Selbst das Glaubensbekenntnis, das an

Weitere Kostenlose Bücher