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Ausdruck gab. Seine Begegnungen mit Frauen gerieten bei weitem nicht so stürmisch wie die Affären Hölderlins, der weltfremd oder nicht als junger Mann ein Herz nach dem anderen brach. Selbst die Erziehung der eigenen Kinder, die ihm unter den wenigen Freuden des täglichen Lebens noch die gröÃte bereitete, verwertete Jean Paul beruflich, indem er mit Levana sogleich ein monumentales Handbuch zur Pädagogik verfaÃte. Ich selbst schreibe seit vier Jahren einen Roman, der nichts anderes tut, als meine Gegenwart gegen die Zeit zu imprägnieren und wenn schon nicht die, wenigstens eine untergesunkene Welt aus dem Meerboden der Vergessenheit heraufzuholen, um es mit dem Satz zu sagen, der auf der letzten Seite von Selina steht. »Aber ist das Erinnern und Heraufholen untergesunkner Zeiten aus dem Meerboden der Vergessenheit nicht ein Beweis, daà es gleichsam noch ein ätherisches zweites Gehirn gibt, das bloà vom schweren drückenden des Tags befreit zu sein braucht, damit es den feinern ätherischen Anregungen des Geistes folgsam sich bequeme?« Mag sein, nur praktisch hat das ständige Erinnern und Heraufholen zur Folge, daà ich vom Dasein, das so wertvoll sei, nichts mehr habe auÃer Kindererziehung und Schreibtisch, auch heute nicht, Samstag, der 1. Mai 2010, der bisher wärmste Tag des Jahres nach dem längsten Winter meiner Generation, alle Welt drauÃen, die Kinder versorgt, nur ich sitze seit morgens um acht über Büchern gebeugt am Schreibtisch, an dem ich gestern bis zwei und in den vergangenen Monaten und mehr oder weniger seit Jahren, ja seit zwanzig Jahren, wenn ich genau überlege, immer saÃ, wenn die Umstände es zulieÃen oder ich nicht auf Reisen war, aber auf Reisen schreibe ich fast noch mehr. Manchmal frage ich mich, wenn ich so am Schreibtisch sitze: Was denken die über mich, die mich vom Haus gegenüber immer am gleichen Platz sehen, wachen morgens auf und sehen mich, verbringen alle Tag zu Hause und sehen mich, kommen nachmittags von der Arbeit und sehen mich, treten wie die Alte vom Erdgeschoà rechts alle paar Wochen kurz auf den Balkon und sehen mich, auch jetzt wieder, jetzt Samstag, der 1. Mai 2010, 10:59 Uhr, da ich diesen Satz schreibe, die junge Nachbarin mit langen schwarzen Haaren hinter den weiÃen Gardinen, obwohl junge Frauen in den Innenstädten sonst nie mehr Gardinen vor ihren Fenstern haben, die junge Nachbarin, die ich auf ihrem Balkon nur sehe, wenn sie Wäsche auf den Ständer hängt, den sie in diesem Augenblick, 11:01 Uhr, zusammenklappt, mindestens vier-, fünfmal die Woche hängt sie Wäsche auf, das muà man sich vorstellen, obwohl sie allein lebt, nur einmal habe ich auf ihrem Balkon einen Mann gesehen, der sie später auf dem Hof mit kleiner Digitalkamera photographierte, genau unter meinem Schreibtisch zog sie sich die Bluse aus und posierte mit einem Büstenhalter so altmodisch wie ihre Gardinen, auch das muà man sich vorstellen, was schon vor meinem Schreibtisch alles passiert, vergangene Woche bestimmt schon das fünfte oder sechste Mal, daà sie Wäsche auf den Ständer hing, ich sollte mir Striche machen, aber sie vielleicht auch, sie wird vielleicht auch Striche machen, ist der immer noch an seinem Platz?, was macht der da bloÃ?, was ist das für einer?, zumal sie nicht wissen kann, daà die Wohnung nur mein Büro ist und ich darin tatsächlich nichts anderes tue, als am Schreibtisch zu sitzen, gelegentlich im Lesesessel einzudösen oder auf der Matratze zu übernachten, wenn die Kinder bei der Frau sind, damit ich am nächsten Tag früher beginne. Was würde die junge Nachbarin im Haus gegenüber denken, wenn sie durch welche Zufälle auch immer sich am 11. Mai oder einem der darauffolgenden Dienstage in den Hörsaal HZ1 der Goethe-Universität Frankfurt verirrte. Würde sie dann einen Sinn darin erkennen, warum ich trotz des guten Wetters jetzt am Schreibtisch und überhaupt in der Wohnung gegenüber immer am Schreibtisch sitze, wenn ich nicht im Lesesessel eindöse, würde Sie die Notwendigkeit einsehen? »Hallo, Frau Nachbarin«, würde ich am liebsten in den Hörsaal rufen, »wenn Sie zufällig da sind, dann sagen Sie es mir bitte.« Es ist ja mehr als nur Hybris, es ist vielleicht schon ein Fall für den Therapeuten, wenn man über Jahre so viele Stunden am Tag ausschlieÃlich mit sich selbst
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