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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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würde, und nicht gewillt war, dem Freund die Sorgen zu nehmen. Der Musiker ist wahrscheinlich der einzige Mensch, dem der Freund zugestehen würde zu sagen: Das darfst du nicht, das ist nicht dein Buch. – Ich meinte doch nicht, daß du anderen bezeugen sollst, was geschah, ruft der Musiker in den Hörer, mir solltest du ein Zeuge sein, mir!, und erzählt, warum er eine Fremde auf die Palliativstation mitgenommen habe, eine freundlich blickende, lebensklug scheinende Frau, die vor einer Bushaltestelle stand. – Setzen Sie sich bitte, habe der Musiker gesagt und ihr dann mit heller Stimme alles Gute über seine Mutter gesagt, weil er sicher war, daß die Mutter es hörte. So viel war das Gute, daß der Musiker noch lange nicht zu Ende war, als die Fremde in Tränen ausbrach und von Heulkrämpfen geschüttelt wurde, sie, die Nasrin Azarba überhaupt nicht kannte. Am gleichen Tag benetzte eine Krankenschwester Nasrins Azarbas Brust mit Rosenwasser. Als sie mit dem Tuch auch seine Brust benetzte – Navid, ich schwör’s, die Schwester war dabei –, seufzte Nasrin Azarba laut auf. Die Schwester verließ das Zimmer. – Was ich sagen werde, kündigt der Musiker an, habe ich noch nie einem Menschen gesagt und darfst du nie jemandem sagen. Der Freund weiß sofort, was er hören wird, und unterbricht den Musiker, der tatsächlich von den letzten Atemzügen seiner Mutter zu sprechen beginnt. Der Freund will nicht aus Höflichkeit lügen und so tun, als habe der Musiker es ihm noch nicht erzählt. Er will auch nicht, daß der Musiker meint, der Freund habe die letzten Atemzüge nachträglich in den Roman eingefügt, den ich schreibe. Wenn der Musiker im Laufe des Sommers oder vielleicht auch später nicht möchte, daß jemand von ihrer Passage erfährt, die aus der Endlichkeit hinausweist, muß der Freund den Absatz streichen, dessen Berechtigung außerhalb der Literatur läge. – Vielleicht ist es gut, daß es einen Zeugen gab, sagt der Musiker. Niemand hätte sonst gewußt, daß ein Sohn 2008 in München schwieg, damit seine Mutter in Frieden stirbt. Der Musiker selbst gebraucht diese Worte: in Frieden, ohne den Titel des Romans zu kennen, den ich schreibe. – Du fährst an die Wand, hast du mich im Krankenhaus gewarnt, weißt du noch? Ja, der Freund weiß noch, daß der Musiker sich im eigenen Krieg befand. – Ich würde es nicht Krieg nennen, meint der Musiker, der von der Chemotherapie direkt zur Palliativstation fuhr. Ob ihm nicht wohl sei, fragte der Taxifahrer. Er, der Taxifahrer, sei ein neutraler Beobachter, antwortete der Musiker: Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie beide sich kein zweites Mal begegnen, deshalb sage er ihm und nur ihm, dem Taxifahrer, wie es um ihn, den Musiker, stehe: Er sei unheilbar erkrankt, komme direkt von der Chemotherapie und fahre zur Mutter, die nichts von seiner Krankheit erfahren dürfe, da sie im Sterben liege. – Weißt du, was der Taxifahrer gesagt hat? fragt der Musiker: Er hat gesagt, daß sich Menschen in so einer Lage in ein Auto setzen und mit hundertachtzig gegen die Wand fahren. Er hat die gleichen Worte gebraucht wie du. Aber ich bin nicht gegen die Wand gefahren. Bis hierhin habe ich überlebt. – Und deine Mutter ist in Frieden gestorben. Niemand hat es erfahren, und das in diesem Dorf München, wo jeder jeden kennt, nicht einmal sein Vater, nicht einmal seine Schwester, nicht einmal, als der Musiker keine Haare mehr hatte. Erst am Tag nach Nasrin Azarbas Tod sagte er dem Bildhauer und der Sängerin, daß er sich die Haare nicht deshalb rasiert habe, weil Glatzen in Mode gekommen seien.
    Wenn schon die früheren Werke mit ihren tausend Abschweifungen jeden Gattungsbegriff sprengen, ist Selina erst recht nicht als Roman im üblichen Sinne zu fassen; der Romanschreiber beginnt im ersten Kapitel mit einer Handlung, die er bald wieder vergißt, um das letzte Kapitel mit dem Geständnis zu beginnen, daß er die Handlung »ziemlich lange« aus den Augen verloren habe. Nicht einmal versucht es Jean Paul in Selina mehr mit dem Humor, den er in der Vorschule selbst postulierte, weder Witz noch Situationskomik, keine überdrehte, sondern gar keine Romanmanufaktur, statt dessen ineinander verschlungene oder sich ablösende Gedankenketten in der simplen Form des platonischen Gesprächs. Theologische Spekulationen

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