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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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über die Seele wechseln sich mit neurologischen Darstellungen des Bewußtseins ab, Zweifel und Glaube stehen unverbundennebeneinander, geäußert manchmal von ein und derselben Person wie von der sterbenden Mutter, die eine Stimme hört: »Das Siechbett ist kein Siegbett, mit dem Tod ist alles aus, auch der Tod und das Nichts und Alles und das Nichts.« »Jawohl«, sagt die Mutter und faltet die Hände ein letztes Mal zum Gebet: »Nun muß ich nach dem Scheiden von allen meinen Geliebten, noch vom Allergeliebtesten den bittersten Abschied nehmen, von dir, mein Gott! So nimm denn meinen letzten Dank; mein Herz liebt dich bis es steht.« Meine Dünndruckausgabe ist voller Striche und Klebezettel, noch viele Stellen könnte ich zitieren, die jene tiefe Religiosität anzeigen, die Gott nicht mehr braucht. Oft wird der frömmste Gedanke vom ketzerischsten hergeleitet, die Notwendigkeit höheren Sinns mit dem Offenkundigen der Willkür begründet: »Gott ist voll Liebe, aber die Welt ist voll Schmerz; und er sieht ihn zucken von Erdgürtel zu Erdgürtel, von Jahrtausend zu Jahrtausend. Ich habe es mir zuweilen ausgemalt, es aber nicht lange ausgehalten, welche ungeheure Welthölle voll Menschenqualen in jedem Augenblicke vor dem Alliebenden aufgetan ist, wenn er auf einmal alle die Schlachtfelder der Erde mit ihren zerstückten Menschen überschaut – und alle die Kranken- und Sterbezimmer voll Gestöhn und Erblassen und Händeringen – und die Folterkammern, worin verrenkt wird – und die angezündeten Städte und alle die Selbstmörder hintereinander mit den unsäglichen Qualen, die sie in den Tod treiben – – Nein, das menschliche Auge kann nicht mit hinblicken; es muß über den Erdball hinausschauen, damit es wieder seine Wunde stille, wenn es sieht, daß nach allen scharfen Schlägen des Schicksals nicht ein auf immer zerschmetternder der letzte ist. Oder hielte eine Seele den Gedanken aus, daß das Opferbeil, nachdem dessen Schneide eine Ader nach der andern im unschuldigen Leben geöffnet, in der letzten Minute die stumpfe breite Seite vorkehre zum Todes-Schlage auf ewig?« Während ein Rittmeister diesen Gedanken äußert, wird ein ungestalter, vieleckiger Kasten an den Versammelten vorübergetragen. Erst auf Nachfrage erfahren sie, daß es der Sarg der gichtbrüchigen Pfarrfrau ist, deren physische Qual der Roman zuvor allen als Skandal entgegenhielt, die das Leben zur Fügung verklären. Die Glieder der Verstorbenen hat »der Schmerz zu einem verworrenen Knäuel und Klumpen, für welchen gar keine Form als das Grab sich fand, zusammengewunden«. Aber wenn schon Gott so viel Ungerechtigkeit und Leid zuläßt, ist es am Menschen, auf Gerechtigkeit zu bestehen – zu vernichten die Vorstellung, vernichtet zu werden, wie es einmal heißt. Jean Pauls Bejahung ist ein Aufstand: Sein Roman hält Gott die Treue sogar gegen Gott. Als die Trauergemeinde mit dem verwinkelten Sarg vorübergezogen ist, nimmt der Ich-Erzähler das Gespräch wieder auf: »Und der, vor welchem die Millionen Paradiese durch die zahllosen Welten hin liegen, sollte keines aufmachen für ein jahrelang gequältes Wesen, das schuldlos auf dem gemeinschaftlichen Paradiese vertrieben außen an dessen Schwelle verschmachten und verdorren müßte?« Die Frömmigkeit hier und die Häresie dort schließen sich in Jean Pauls letztem Roman zu jener häretischen Frömmigkeit Hiobs zusammen, die für mich auch die Frömmigkeit des Gekreuzigten wäre: Niemand ist sich Gott so sicher, als wer von Ihm verlassen. »In Untersuchungen und Fragen über die Welt hinaus ist alles kühn und das Glauben noch kecker als Zweifeln.« Obwohl auch Selina eine Reihe solche Grauensbilder enthält wie den Sarg, der nicht mehr auf einen menschlichen Körper schließen läßt, und der Romanschreiber alt geworden dem Weltenlauf kein menschliches Leid vergibt, drückt sich über alle Einwände hinweg ein Seelenfrieden aus wie im Gebet der sterbenden Mutter. Als Christ bestreitet, als Dichter besiegt Jean Paul den Zufall, indem er sich ihm ergibt. Als Christ hält Jean Paul daran fest: »Denn ohne einen Gott gibt’s für den Menschen weder Zweck noch Ziel, noch Hoffnung, nur eine zitternde Zukunft, ein ewiges Bangen vor jeder Dunkelheit und überall ein feindliches Chaos unter

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