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verwendet ohne Skrupel. Vier Jahre lang hat Gerhard Richter Entwurf um Entwurf angefertigt, bis die zweiundsiebzig Farbtöne feststanden, die für den Dom notwendig sind. Mit Physikern hat er die Lichtstrahlen und ihre Spiegelung zu den verschiedenen Tageszeiten berechnet, mehrfach Probescheiben in die Fensteröffnung eingesetzt, von jedem Farbton zweiundsiebzig Quadrate hergestellt und mit Programmierern an der geeigneten Software getüftelt. Aber dann hat er auf einen Knopf gedrückt, die Taste eines Computers, der die zweiundsiebzig mal zweiundsiebzig Farben durch einen Zufallsgenerator anordnete. Was der Genieästhetik Gott war, ist heute diese Taste.
Das Teehaus, in dem er vor zwanzig Jahren der jüngste Stammgast war, hatte sich erweitert, ohne Schaden genommen zu haben. Genau gesagt waren nur einige zusätzliche Plastikstühle in die enge Passage zwischen zwei verruÃten Kolonialhäusern gestellt worden, aber an diesem Ort ist selbst bloÃes Stühlerücken eine Kulturrevolution. Da der natürliche Geschmackssinn vor drei, vier Jahrzehnten verkümmert zu sein scheint, bedeutet Fortschritt in Kairo meist mit Adorno, Fortschritt zu verhindern. Bestimmt tauchen ab ein, zwei Uhr die müdesten Nutten Kairos auf, für eine letzte Cola oder einen ersten Kunden, während Umm Kulthum wie jede Nacht von »jenen Tagen« singt. Der Zauber des Teehauses genauso wie weltweit aller Gaststätten, die den Namen verdienen, besteht darin, daà nichts aufeinander abgestimmt ist und gerade wegen des Zufalls alles stimmt, die Einrichtung und das Dekor, die bei der Gründung schon abgenutzt gewesen sein müssen, das freundliche Personal, das dennoch zuviel berechnet, die kunstvollsten arabischen Orchester aus den quälendsten Lautsprechern, die Männer, die bei ihren Karten- und Brettspielen zu kleinen Jungen werden, die Frauen, die ebenfalls so tun, als seien sie noch jung, und vor allem das Lachen, das laute, glucksende, polternde, quiekende, heisere, schadenfrohe, selbstironische, diebische, verschmitzte, gutmütige, verzeihende Lachen, das man in Kairo öfter als in jeder anderen Stadt hört und nirgends in Kairo öfter als an einem Abend im Teehaus, glücklicherweise immer noch hört, muà ich schreiben, denn vor jeder Rückkehr fürchtet er, daà die Fee, die alles fügt, verschwunden sein könnte. Ein Eintrag in einem Reiseführer könnte genügen oder der Hinweis von einem der neuen Zeloten in den Zeitungen, die sich auf etwas besinnen, was niemals existierte, gehört doch zur Tradition in Kairo nicht der Puritanismus, aber die Prostitution. Unmöglich, daà eine Symphonie wie das Teehaus heute noch komponiert werden könnte. Es ist ja nicht komponiert worden, es war einfach da, ein Relikt schon an seinem ersten Tag. Für die Ãltere, die mit ihrem Geburtstagsgeschenk ein Photo machen wollte, stellten sich sämtliche Gäste mitsamt dem Personal und den umliegenden Ladenbesitzern in Pose. AnschlieÃend machte der Wirt das Photo von Vater und Tochter, wegen dem allein sich die zwanzigjährige Reise gelohnt hätte.
Tiefgründiger als in Jean Pauls Vorschule der Ãsthetik , die manchmal zu gut über alles Bescheid weiÃ, ist in Hölderlins mehr suchender als wegweisender Poetik das Göttliche als das bezeichnet, was mit Formulierungen wie dem taoistischen »Tun des Nichtstun« alle mystischen Traditionen kennen. »Herr gib mir nichts, als was du willst«, sagt Meister Eckhart etwas Ãhnliches christlich, oder bereits Johannes der Täufer: »Er muà wachsen, ich aber muà abnehmen« (Johannes 3,30). Zum Zufall säkularisiert, muà auch heute andrer Wille geschehen, soll Literatur über das hinausgehen, was ein einzelner sieht. Jean Paul gibt Definitionen, benennt Schulen, analysiert Stile, theoretisiert den Humor, seziert kurze Passagen aus eigenen und fremden Texten, lehrt den besseren Gebrauch der Sprache, und alles ist schlüssig, ist hilfreich und noch heutigen Schreibwerkstätten aufgetragen. Er polemisiert wieder und wieder gegen die »Ich-Sucht« der zeitgenössischen Literatur, »das Denken, Dichten und Tun der ausgeleerten Selbstlinge«, und verfaÃt mit dem Titan einen eigenen Roman gegen den Geniekult, in welchem er Fichtes reinem Ich das kümmerliche Ich eines realen Fichteaners entgegenhält. Aber wenn Jean Paul bezeichnet, wo in seinen Romanen, die noch
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