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kreuzestheologisch den Nachvollzug des Leids. Unter Beibehaltung ihrer Begriffe faÃt Hölderlin ästhetisch, was die christlich-mystische Tradition mit der EntblöÃung der Seele, ihrer Entwerdung in Gott und der Passion meint, deutet die religiöse Hingabe in die radikale Offenheit, also Willenlosigkeit des Dichters um. Die Ambivalenz dieses Vorgangs hebt Hölderlin schon in den nächsten Zeilen warnend hervor, mit denen das Gedicht abbricht: »Weh mir! wenn von / Weh mir! // Und sag ich gleich, / Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen / Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden / Den falschen Priester, ins Dunkel, daà ich / Das warnende Lied den Gelehrigen singe. / Dort«. Die mystische Vereinigung, die in den poetischen Prozeà übertragen als Notwendigkeit erlebt wird â das Gedicht, der Roman schreibt sich selbst â, die Vereinigung ist aufgehoben, sobald sie ausgesprochen, auf das Gedicht, den Roman übertragen: sobald die Notwendigkeit erklärt wird. Entmythologisiert man Hölderlins Poetik, wäre sein Begriff von Autorenschaft und Werkcharakter moderner und zumal zukünftiger Literatur, die nicht mehr selbstverständlich einem Individuum zuzuordnen sein wird und ihre materielle Gestalt als Papier zwischen Buchdeckeln verliert, sogar angemessener als jene Autonomie der Schöpferischen, die sich heute in der zunehmenden Personalisierung selbst der seriösen Literaturkritik ausdrückt. In Hysterien wie in Deutschland zuletzt um die junge Helene Hegemann und die zwei Seiten, die sie abschrieb, bewahrt sich in den Feuilletons die Subjektvergötterung der Genieästhetik als ihre Karikatur.
Am Mittwoch, dem 5. Mai 2010, war ein Leser aus Norddeutschland zu Besuch, bei dem der Romanschreiber vor drei, vier oder fünf Jahren übernachtet hatte, ohne es im Roman zu erwähnen, den ich schreibe. Es hätte zwar in einem der Nachbardörfer auch ein Hotel gegeben, aber der Veranstalter, der mit dem Leser oder dessen Frau verwandt ist, hatte gesagt, daà es auf ihrem Bauernhof bequemer sei. Ihr jüngerer Sohn, vier, fünf Jahre alt, hatte eigens eine groÃe iranische Flagge und einen Wimpel angefertigt, der Leser den Lieblingswhisky des Romanschreibers besorgt und seine Frau am nächsten Morgen einen Sack Kartoffeln und selbstgemachten Apfelsaft mit auf den Weg nach Köln gegeben. Auf dem Dorf, das schreibt auch GroÃvater irgendwo, hat jeder zusätzliche Mensch Bedeutung. Später hatte der Romanschreiber durch eine Mail erfahren, daà der jüngere Sohn an Leukämie erkrankt war, und ein Kinderbuch in den Norden geschickt. Wieder später hatte er durch einen Brief von der Heilung erfahren. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2010, erfuhr er, daà der Sohn in der Klinik nur in der ersten Nacht vom Tod gesprochen hatte, als im Nebenbett ein anderes Kind im Endstadium lag. Der Leser ging auf den Zustand des anderen Kindes nicht näher ein, wie er den Krankenbericht überhaupt kurz faÃte. Deutlich genug wurde, wie gespenstisch es für den jüngeren Sohn des Lesers gewesen war, ein Krankenzimmer wie der Eingang zur Hölle, so kam es dem Romanschreiber vor, der selbst zwei Kinder hat, dunkel, dann das Stöhnen oder die Schreie aus dem Nebenbett, dem Sohn vertraut nur sein Vater, der selbst um Fassung gerungen haben wird. Wenn der Romanschreiber es nicht falsch verstand, hatte die Familie des Lesers erst an dem Tag von der Krankheit erfahren. Der Arzt war bleich geworden bei dem Befund und hatte den jüngeren Sohn auf der Stelle in die Klinik eingewiesen. In der Nacht habe der Sohn gefragt, ob er jetzt sterben werde wie der Junge im Nebenbett. Seitdem habe er nur noch von der Heilung gesprochen, alle Chemotherapien über, bis er recht bekam. Auch jetzt habe er einen gleichsam professionellen Umgang mit den Tabletten, die er noch immer jeden Tag schlucken müsse, mächtige, übergroÃe Tabletten, viel zu dick für seinen dünnen Hals. Als der Leser ihm angekündigt habe, in Köln den Romanschreiber zu treffen, der bei ihnen zu Besuch gewesen war, habe der jüngere Sohn sich an jedes Detail erinnern können, zuoberst die iranische Fahne. Ob der Romanschreiber sie noch besitze, habe der Sohn den Leser zu fragen gebeten. Aus Scham log der Romanschreiber, der glaubte, sie seiner älteren Tochter geschenkt zu haben, daà die iranische Fahne in der Wohnung über der Garderobe hänge.
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