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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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gibt nur ein Mittel‹ rief er schweißgebadet: ›Ich muß den Kehlkopf aufschneiden!‹ ›Was müssen Sie?‹ stammelte der Vater des Jungen entgeistert. ›Ich weiß nicht, ob der Junge es überlebt, ich weiß nur, daß er sonst gleich ersticken wird. Hat jemand ein scharfes Messer? Schnell!‹ Als einer der Bauern ein Jagdmesser aus dem Gürtel zieht, fiel die Mutter des Jungen in Ohnmacht. Alle anderen schauten sprachlos zu, wie mein Mann das Jagdmesser rasch mit Alkohol wusch und mit einem Feuerzeug desinfizierte. Dann setzte er es über der Kehle des Jungen an, der inzwischen das Bewußtsein verloren hatte, zog mit der anderen Hand die Haut auseinander und öffnete die Luftröhre durch einen kleinen Schnitt. Die Tablette sprang heraus. Auf die Wunde preßte mein Mann ein Tuch, das sich rot verfärbte, und beatmete gleichzeitig den Jungen von Mund zu Mund. Nach einer Zeit, die schier endlos schien – die einen standen erstarrt, die anderen laut betend im Kreis –, fing der Junge endlich an, selbständig zu atmen. Als er kurz darauf die Augen öffnete, war niemand im Dorf, der nicht weinte. Die Eltern fielen auf die Knie und küßten abwechselnd den Jungen und meinen Mann. Freudentränen bedeckten ihre jungen, aber durch Arbeit, Entbehrung und Sonne wie gegerbten Gesichter. ›Mögest du immer neben deinem Mann aufwachen‹, riefen sie mir zu, ›möget ihr zusammen alt werden, möge Gott eure Kinder schützen.‹« Die Mutter verbringt eine Woche in Isfahan. Bei ihrer Ankunft wird sie von den Verwandten und Bediensteten freudig umarmt, doch weder Großvater noch Großmutter fragt, wo sie eigentlich gewesen ist und was sie erlebt hat. Es interessiert nicht, es gehört einem anderen Leben an, einem anderen Haus. »Es war, als ob ich von Flitterwochen am Meer zurückgekehrt wäre, mit Koffern voller neuer Kleider und Geschenken.« Mit dem nächsten Bus kehrt sie zurück und verbringt die meisten Wochen auf dem Dorf, bis sie schwanger wird und der Vater sagt, daß sie besser nach Isfahan zurückkehre. Wie die Eltern ohne Strom, ohne Glas in den Fenstern, ohne fließend Wasser die einträchtigsten Monate ihrer Ehe verbringen, er als radelnder Landarzt, sie im Intensivkurs für Lebenspraxis, wird das Buch erzählen, auf dessen Umschlag der Name der Mutter steht.
    â€“ Nein, nicht der Tod der Nächsten, widerspricht am Telefon der Musiker in München, nur der eigene Tod: Selbst der Verlust von Nahestehenden habe ihn im Glauben belassen, daß auf den Friedhöfen nur Platz sei für andere Menschen. Sein Verstand habe um die Sterblichkeit natürlich gewußt – aber was heiße das schon: der Verstand? Sei nicht der Verstand eher ein Schutz vor der Erkenntnis, ein sinnvoller Schutz oft? Bewußt sei ihm die eigene Vergänglichkeit – wie Großvater verwendet der Musiker am Mittwoch, dem 2. Juni 2010, um 10:18 Uhr den mystischen Begriff: fanâ , den die Fachliteratur mit dem Eckartschen »Entwerden« übersetzt –, bewußt sei ihm die eigene Vergänglichkeit erst geworden, als er seine Zerbrechlichkeit gefühlt habe, so konkret gefühlt wie ein heißes Eisen. Das könne einem niemand vorleben. Es geschehe, wie wenn man im Vorübergehen seinen Mantel an einen Kleiderhaken wirft. Was sich als erstes entlarve, wenn man den eigenen Tod riecht – ja richtig, der Tod habe einen Geruch, was auch immer da faule –, das erste, was sich entlarve, sei das Bewußtsein des Ichs, sei der Name, sei das Numernschild, mit dem man eben ein paar Kilometer gefahren sei, sei die Furcht, die Schilder zu verwechseln oder ohne Nummer auskommen zu müssen. Von selbst erwachse daraus die Frage, was denn da bitte bleibt. Selbst seine Mutter sei ihm keine Lektion gewesen, die Vergänglichkeit anzunehmen. Was man nicht lernen könne: Erst wenn du die Vergänglichkeit begreifst, begreifst du auch das Dauern ( baghâ ), den Tod als Boten des Lebens. »Und daß wir jetzt schlafen in unsern Krankenhäusern, dies zeugt vom nahen gesunden Erwachen«, fährt Hölderlin fort, der auf der Schreibtischplatte liegt: »Dann, dann erst sind wir, dann ist das Element der Geister gefunden!« Das sei auch ein Geschenk, spricht wieder der Musiker, das zu erleben und zurückzukehren. Er habe allein in seinem kleinen Zimmer gelegen, kaum jemand habe von seinem

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