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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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das Gedicht wieder und habe noch mehr Fragen. Also lese ich es ein drittes Mal, und erst allmählich geht mir auf, daß die Sätze gar keinen Sinn ergeben, jedenfalls keinen gewöhnlichen. Wie aus einem Automaten ausgespuckt wirken sie, wenige poetische Bilder und Satzvarianten in zunächst beliebig scheinenden Konstellationen, ja, wie von Gerhard Richters Zufallsgenerator erschaffen. Vielleicht weil nicht er dichtet, sondern von wem auch immer gedichtet wird, nennt er sich zum Schluß Scardanelli oder Buonarotti und beschimpft jeden, der ihn mit seinem richtigen Namen anredet: »Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, / So ist’s, als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet, / Daß ausgezeichnet sich der Mensch zum Reste neiget, / Von der Natur getrennt und unbeneidet.« Zur Lyrik des einst gepriesenen Schillers verhalten sich die Klapphornverse, in denen sich austauschbare Bilder unscharf aneinanderreihen, wie eine Aufnahme mit dem Handy zu einem amerikanischen Film, wie amerikanische Filme oft gar nicht mehr sind. Gerade in ihrem Wegwerfcharakter werden die Gedichte wirklich. Die Zettel sind kein Abfall, wie die Germanistik nachwies, indem sie bei einzelnen Gedichten Wort für Wort und alle Klangfolgen so mikroskopisch genau analysierte wie Archäologen eine Steintafel. »Die Aussicht« etwa, das Gedicht aus Hölderlins letzten Lebenstagen Anfang Juni 1843, folgt bis in den glanzevozierenden Stamm der Zeitwörter der Poetik vom Werden im Vergehen . »Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, / Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten, / Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet / Den Menschen dann, wie Bäume Blüt umkränzet.« Und über der Wüste des Lebens leuchten Verse, wie sie ein kluges Kind gedichtet haben könnte – Ich bin ein Ich –, daß über die Weltsicht des Lebensmüden, aller Lebensmüden verfügt: »Das Angenehme dieser Welt habe ich genossen, / Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, / April und Mai und Junius sind ferne / Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne!« Ich bin ich, staunt das Kind. Ich bin nichts, fanden Jean Paul und Hölderlin Frieden als Dichter. Sie sind Gott, stürzt der Poetologe zu Boden, der gleichwie seinen eigenen Roman schreiben muß.
    Ich laufe jeden Tag durch mein Viertel hinterm Bahnhof. Ich höre hier etwas Arabisches, dort Polnisch, links etwas, was nach Balkan klingt, Türkisch sowieso, vereinzelt Persisch, das mich aufhorchen läßt, Französisch von Afrikanern, asiatische Sprachen, auch Deutsch, gesprochen in den unterschiedlichsten Färbungen und Qualitäten, von Blonden ebenso wie von Orientalen, Schwarzen oder Gelben. Das ist nicht immer nur angenehm, die Penner, die vielen schwarzen Kunstlederjacken (vielleicht auch aus echtem Leder, was weiß ich denn), o Gott die goldenen Vorderzähne der schwarzhaarigen Frauen, die lange bunte Röcke und ein Baby im Tuch tragen, die zweiten und dritten Kinder an der Hand und vorneweg, die Jugendlichen, die herumlungern, die Drogenabhängigen und die mit einem Hau, die ihr Wohnheim »Unter Krahnenbäumen« haben, wie die Straßen in meinem Viertel wirklich heißen, dazwischen einige Muslime mit verdächtig langen Bärten. Nicht nur hinterm Kölner Bahnhof breitet sich diese Wirklichkeit aus. Wahrscheinlich in allen großen Städten Europas findet man die Mischung aus türkischen Gemüseläden, chinesischen Lebensmitteln, die iranischen Spezialitäten beim Händler, der vor der Revolution Regisseur beim iranischen Staatsfernsehen war, die traditionellen und Selbstbedienungsbäckereien, die Aneinanderreihung von Handyshops und Internetcafés, Iran neunzehn Cent, Türkei neun, Bangladesch vierundzwanzig, die Billighotels, Sexshops, Brautmoden, die Szenekneipen und Tee- oder Kaffeehäuser für Türken, Albaner, Afrikaner, Türken mit und ohne Alkohol, die schicken und die schäbigen Restaurants, Thaimassageläden, Wettbüros mit und ohne Alkohol, zwischen In- und Export das eine oder andere Uraltgeschäft für Haushaltswaren oder Stempel, an der Hauptstraße das Flüchtlingshaus mit Roma, die die Glassscheiben abmontiert haben, um Satellitenschüsseln in die offenen Fenster zu stellen, und auf dem Mittelstreifen eben jenes Fahrrad zu verkaufen, das man seit vier Wochen vermißt, dazwischen im

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