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ein neues Buch zu finden. Mehrere tausend verschiedene Audio-, Bild- und Videodateien wollen die Freunde gezählt haben, und dabei hat Neil Young nur den ersten von insgesamt fünf Teilen veröffentlicht, auf die sein Archiv angelegt ist, genau gesagt die Dokumente der Jahre 1963 bis 1972. Der Künstler als sein eigener Editor und NachlaÃverwalter â ich glaube nicht, daà es einen Fall von vergleichbarem Perfektionismus je gab. Viele sammeln ja, was sie sich nie wieder anschauen werden, Familienphotos, Schulzeugnisse, Urlaubsvideos, die Resultate ihrer Arbeit. Hier hat einer gesammelt, der gewuÃt haben muÃ, daà es angeschaut wird. Es ist, als hätte Hölderlin schon an die verschiedenen Editionsschulen gedacht, die zweihundert Jahre nach ihm über seine Hinterlassenschaft streiten, während er die Listen seiner Wäsche erstellte oder das gleiche Gedicht in sechs Variationen schrieb. Hätte es im neunzehnten Jahrhundert bereits Blu-ray gegeben, hätte sich die Philologie als die Priesterdisziplin der Geisteswissenschaft erübrigt. Wie der Protestantismus jeden Gläubigen befähigt, die Bibel eigenständig zu verstehen, würde jeder Leser oder Hörer seine eigene Werkausgabe erstellen. Ist dieser unvermittelte Zugriff auf die Quellen nicht erst recht ein Betrug? frage ich mich und höre den Freunden längst nicht mehr zu. Ist es am Künstler selbst, festzulegen, welche Zeugnisse bleiben und welche verschwinden? Und angenommen, er würde ohne Ansehen alle Varianten und Dokumente vorlegen, was nach Mega und Giga den nächsten Datensuperlativ bedeutete â grenzt es nicht an Idolatrie, sich dafür zu interessieren? Die Freunde würden mir den Rücken zukehren, stellte ich ihnen solche Frage. Für »taub, blind und stumm« würden sie mich halten, wie es in Sure 2,18 über die Ungläubigen heiÃt, unfähig, das Offenkundige zu erkennen, aber es stimmt, es stimmt auch und vielleicht erst nach einem Leben mit Neil Young: Die erste Wäscheliste studiere ich gern, die zweite halte ich für eine Kuriosität, die dritte werfe ich in den Papierkorb zurück, aus dem sie der Herausgeber hervorgeholt hat. Nein, ich glaube nicht daran, daà jede Fassung wert ist, aufbewahrt zu werden. Abgesehen davon, brauche ich mir kein Blu-ray-Gerät anzuschaffen, da ich nicht einmal mehr Zugang zum Internet habe. Die Plattenfirma, die ich anrief, verschickt keine CD s als Rezensionsexemplar und lieferte statt dessen zehn DVD s, die zwar das Bildmaterial enthalten, aber die neue Freiheit auf die Alternative reduzieren, entweder das eine zu hören oder das andere zu sehen. Ich schob sie in meinen Laptop, dessen Lautsprecher tatsächlich wie ein Transistorradio klingen, und starrte auf den Bildschirm, der weniger Zusammenhänge, Assoziationen und Kongruenzen bot als ein guter Roman. Hört man Musik, sieht man einen Plattenspieler; liest man den Liedtext, fehlt die Musik. Ohnehin ist der beste Ort, Neil Young zu hören, das Auto, wie Neil Young sicher zugäbe, dessen neue Platte ausschlieÃlich von seinem Lincoln Continentalhandelt, den er auf Elektrobetrieb umgerüstet hat. So radelte ich Samstag nachmittag in die Stadt, kaufte für 139 Euro, die die Zeitung mir hoffentlich erstatten wird, rund zehn Stunden Musik ohne Photos, Videos, Texte oder Postkarten und verbrachte den Muttertag glücklich auf der Autobahn. Aus der Bewertung, die die Zeitung von mir erwartet, fallen zwei der acht CD s eigentlich heraus, weil sie vorab erschienen und sogar im Roman erwähnt sind, den ich schreibe, nämlich die grandiosen Konzerte 1970 im Fillmore East und 1971 in der Massey Hall . Der gröÃte Teil des Materials besteht aus bereits veröffentlichten Stücken in anderen Aufnahmen, häufig nur in neuer Abmischung. Bleiben neunundzwanzig unbekannte Lieder, die vor allem auf der ersten CD zu finden sind und die Bemühungen des Heranwachsenden dokumentieren. Musikalisch interessant werden die frühen Jahre erst durch die kreative Explosion Ende 68, die vielleicht wirklich nicht mit irdischen Mächten allein zu erklären ist, da kaum etwas an den frühesten Aufnahmen auf seine spätere Originalität hindeutet, den frappanten Eigensinn und das herausragende Sensorium für Melodien, tiefgründige, manchmal geradezu altersweise Texte und den Wechsel von bizarr weinerlichen und fieberhaft krachschlagenden Kompositionen.
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