Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Schauplatz eines Verbrechens meidet, und hatte lange Umwege in Kauf genommen, nur um hier nicht vorbeifahren zu müssen. Doch die Zeit hatte dem Schmerz die Schärfe genommen und die Bitterkeit vertrieben. Geblieben war eine stille Wehmut. Obwohl die Kälte in seine Schuhe kroch und der strenge Frost das Metall der Zapfpistole an seinen Handschuhen festkleben ließ, musste er an jenen Sommer vor achtundzwanzig Jahren denken, an den Tag kurz nach Mittsommer. Sie hatte ein helles, mit großen pastellfarbenen Blumen bedrucktes Sommerkleid getragen. Schlank und zierlich war sie gewesen – und so jung. Jahre später hatte er einmal eine Frau erspäht, die ein Kleid aus demselben Stoff getragen hatte. Er war ihr gefolgt bis auf einen der Ausflugsdampfer, die zwischen den Schären kreuzten, hatte atemlos darauf gewartet, dass sie sich zu ihm umdrehte. Natürlich war sie es nicht gewesen. Sie war nie zurückgekehrt.
Die Vorstellung, sie tatsächlich wiederzusehen, mit ihr zu sprechen, sie zu berühren und sie jenseits seiner Phantasie lebendig zu wissen, war beinahe surreal. Was würde er tun, wenn sie wirklich da war? Wenn er ihr gegenüberstand? Was erwartete er?
Sie waren damals im Streit auseinandergegangen. Hier an dieser Tankstelle. Er meinte plötzlich, die viel zu laute Musik zu hören. Billy Idol natürlich, Rebel Yell. Der britische Rocker war ihr Star gewesen.
Im Handschuhfach kramte er nach Zigaretten und steckte sich eine an. Als der Fahrtwind den Rauch in ihre Richtung trieb, wedelte sie ihn ungehalten weg und drehte die Musik ab. »Mir wird schlecht«, fuhr sie ihn an. »Mach die verdammte Zigarette aus.«
Ungläubig sah er sie an. Es war ein heißer Tag. Seit Wochen hatte es nicht geregnet, und die Natur dürstete nach Wasser. In vielen Teilen des Landes waren Waldbrände ausgebrochen. Es hatte Tote gegeben, und überall hing der Geruch nach Rauch, verkohltem Holz und aufgeheizter Erde. Und sie beschwerte sich über den Qualm seiner Zigarette. Er lachte sie aus.
Sie erreichten die Tankstelle. Es war die einzige weit und breit, das Dach über den beiden Zapfsäulen schenkte nur wenig Schatten, und die Mittagshitze staute sich darunter. Wortlos stieg sie aus, während er den Tank füllte, und knallte die Wagentür so heftig zu, dass der Tankstellenpächter aus seinem Häuschen trat.
»Kann ich mir irgendwo die Hände waschen?«, rief sie ihm über das Autodach hinweg zu.
Er wies auf einen Wasserhahn an der Seite des Gebäudes. Ein Schlauch war daran befestigt. Sie kniete davor nieder, wusch sich Hände und Gesicht und ließ sich das kalte Wasser mit geschlossenen Augen über ihr langes blondes Haar laufen. An einigen Stellen durchnässte es den Stoff ihres geblümten Kleides.
Ulf bemerkte den versonnenen Blick, mit dem der Pächter sie beobachtete, völlig ohne Anzüglichkeit, so wie er vielleicht auch ein Gemälde bewundert hätte. Ihn selbst ließ ihr Anblick und ihre Selbstvergessenheit an die Geschichten seiner Kindheit denken, an die nebelhaft leichten Frauengestalten der schwedischen Märchenwelt. Es war nicht leicht, sich davon loszureißen.
»Wir müssen weiter«, rief er ihr dennoch zu.
Sie reagierte nicht, ließ sich stattdessen ins Gras fallen und blinzelte in die Sonne, als wäre er überhaupt nicht da.
»Was soll das?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Komm jetzt. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Langsam setzte sie sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich fahre nicht weiter«, entgegnete sie.
»Bitte?« Ungläubig sah er sie an. »Was ist heute bloß los mit dir? Sonst bist du doch auch nicht so.«
Sie antwortete nicht, doch mit einem Mal bemerkte er, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten, er sah, wie sie schluckte, zu Boden blickte. Sie weinte nie in der Öffentlichkeit. Was war geschehen? Zögernd machte er einen Schritt auf sie zu, doch sie hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf.
Unschlüssig blieb er stehen. Die Sonne brannte auf ihn herab, in seinem Hinterkopf regte sich ein beginnender Kopfschmerz. Er spürte den Blick des Tankstellenpächters auf sich, der noch immer in der Tür seines Häuschens stand und ihren Streit schweigend verfolgte. Wären sie allein gewesen, hätte er sie einfach aus dem Gras und zum Wagen gezerrt.
»Komm endlich«, stieß er stattdessen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sie rührte sich nicht.
»Ich fahre jetzt«, warnte er sie.
Keine Reaktion.
Wut kochte in ihm hoch. Er machte auf dem Absatz kehrt, stieg
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