Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
außer einem Stromausfall im Winter. Aber das sagte sie nicht, stattdessen hatte sie ihm geantwortet: »Ich habe den Hund. Und ich kann schießen.«
»Schießen? Du kannst … mit einer Waffe umgehen?«
Sie hatte ihm die Jagdgewehre ihres Vaters gezeigt und den Revolver. »Für den Fangschuss«, hatte sie Thomas erklärt und die Finger liebevoll über das schwarze Metall gleiten lassen. Ihr Vater hatte diese Waffen immer sorgsam gereinigt und gepflegt. Wie sehr hatte er ihre Präzision und Eleganz geliebt. Thomas war zurückgewichen, und sie hatte begriffen, dass er ihre Geste missverstand. »Vermutlich hat hier jeder eine Waffe im Haus«, hatte er gesagt, ohne seine Abscheu zu verbergen. Sie hatte nur genickt. Natürlich besaß hier jeder eine Waffe. Sie gingen schließlich alle zur Jagd.
Die Situation hatte die frisch aufgebrochene Kluft zwischen ihnen nur noch vergrößert. Es gab so viel, das er nicht wusste über sie, und zwangsläufig zerbrach sein Bild von ihr immer mehr. Sie fühlte sich nicht schuldig deswegen. Sie hatte ihn nicht gebeten zu kommen.
Nachdem sie den Wagen aus der Garage gefahren hatte, sprang der Hund auf die Rückbank und hechelte ihr in den Nacken. Sie überlegte, ob sie die Zeit nutzen und nach Sveg fahren sollte. Die Kreisstadt mit ihren fünftausend Einwohnern lag siebzig Kilometer entfernt – bei den winterlichen Straßenverhältnissen dauerte die Fahrt rund anderthalb Stunden.
Caroline nahm den Fuß vom Gas, als sie auf eine Kurve zufuhr und ein entgegenkommendes Fahrzeug bemerkte. Schnee war von den Bäumen auf die Fahrbahn geweht und verengte sie an dieser Stelle auf eine Spur. Sie hielt und gab dem Fahrer ein Zeichen mit ihrer Lichthupe. Der Audi fuhr an, der Fahrer winkte kurz zum Dank. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, er trug wie sie eine Sonnenbrille und hatte zudem seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Als sie nach weiteren fünf Kilometern die ersten Häuser des Dorfes erreichte, hatte sie die Begegnung bereits vergessen.
Sie hielt an der Tankstelle. Der Hund sprang hinter ihr aus dem Auto und folgte ihr aufgeregt schnüffelnd zu dem kleinen Gebäude. Der Pächter sah schnaufend auf, als die Türglocke bimmelte.
»Hej, Lilli«, begrüßte er sie. »So früh unterwegs?«
»Hej, hej«, erwiderte sie. »Ich wollte nach Sveg.«
Er hob warnend seine fleischigen Hände. »Das solltest du dir überlegen. Das Wetter soll gegen Mittag umschlagen.«
Caroline seufzte und betrachtete den See und den leuchtend blauen Himmel darüber. Der Pächter folgte ihrem Blick. »Es hat Vor- und Nachteile, wenn man nicht weiß, was hinter den Bergen aufzieht«, bemerkte er mit einem Lächeln, und sein Gesicht hatte plötzlich viel Ähnlichkeit mit dem des Michelin-Männchens, das hinter ihm an der Wand auf einem alten Blechschild abgebildet war.
»Dann werde ich meine Fahrt wohl lieber auf ein anderes Mal vertagen«, nahm sie seinen Rat an und wies hinüber zum Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Das meiste werde ich sicher auch hier bekommen.« Und mit einem »Danke dir!« ließ sie die Tür hinter sich zufallen.
Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt standen nur wenige Fahrzeuge, jedoch alles große Markenfabrikate. Caroline wusste, dass es nicht leicht war, in diesem abgelegenen Teil Schwedens seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber die Bewohner des Tals schienen einen Weg gefunden zu haben. Sie erinnerte sich, dass Björn von Investitionen in den Tourismus erzählt hatte, von ausgebauten Skigebieten und Wanderwegen für den Sommer.
Sie brachte den Hund ins Auto und schaltete die Standheizung ein. »Ich bin gleich zurück«, versicherte sie ihm und kraulte seinen Kopf, bevor sie die Tür abschloss. Aus seinen großen dunkelbraunen Augen sah er ihr nach und drückte dabei die feuchte Schnauze gegen das Seitenfenster.
Wärme schlug ihr entgegen, als sie den Supermarkt betrat. Sie öffnete ihre dicke Winterjacke und legte die Handschuhe in den Einkaufskorb, während sie durch die Gänge schlenderte. Die Auswahl war bei weitem nicht so groß, wie sie es aus Hamburg gewohnt war, aber es gab andere Köstlichkeiten. Sie zog einen Becher Fjälyoghurt aus dem Kühlregal. Als Kind hatte sie im Sommer die orangefarbenen Moltebeeren an den Flussniederungen gesammelt, und ihre Mutter hatte mit dem Joghurt ein wunderbares Dessert daraus zubereitet. Auch ein Paket des großen runden Knäckebrotes legte sie in den Korb und erinnerte sich an ihren Vater, wie er es mit
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