Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
ihm entgegnet. »Es sind Menschen wie überall sonst auch. Aber im Gegensatz zu vielen anderen können sie warten.«
Er war kurz nach Sonnenaufgang gefahren, bis zum letzten Moment darauf hoffend, dass sie ihn zurückhalten würde. Sie hatte sich ernsthaft gefragt, ob es etwas ändern würde, wenn er blieb. Ob sie früher oder später reden und sich wieder annähern würden. Schließlich hatte sie aufgehört, weiter darüber nachzudenken. Dennoch hatte es sie ihre gesamte Kraft gekostet, ihm nicht nachzulaufen, als er mit seinem Wagen auf die verschneite Straße einbog, und an dem Gewohnten, das Sicherheit gab, festzuhalten. Wenn sie sich jemals wiederträfen, wäre es die Begegnung zweier Fremder, denn der Eindruck ihrer gemeinsamen Jahre würde mit zunehmender Distanz an Schärfe verlieren, würde blass und nichtssagend werden. Einen Vorgeschmack darauf hatte sie bereits in der vergangenen Nacht erlebt. Mit solchen Situationen kam sie nicht gut zurecht, und genau deshalb wich sie ihnen aus.
»Das ist feige«, hatte Thomas ihr vorgeworfen.
Sie hatte es nicht geleugnet.
Im Haus klang seine Gegenwart nach und mit ihr die Erinnerung an die Geschehnisse in Hamburg. Sie konnte sich ihnen nicht entziehen. Die heimeligen Räume erschienen ihr an diesem Morgen wie eine Gruft, das plötzliche Alleinsein und die Stille waren beklemmend, unheimlich fast. Nach dem Tod ihrer Eltern, der wie Liannes ein Unfall gewesen war, ein entsetzlicher, vermeidbarer Autounfall, war es ihr genauso ergangen. Sie hatte in ihrem Elternhaus gesessen und nicht fassen können, was geschehen war, hatte die Stelle am See aufgesucht, wo der Wagen von der Straße abgekommen war, hatte die Spuren verfolgt und Überreste von Blut und zersplittertem Glas im Gras gefunden. Immer wieder hatte sie sich das Geschehen und die verstörenden Bilder ins Gedächtnis zurückgerufen, bis sie die Verzweiflung und Einsamkeit nicht mehr ertragen hatte. Doch damals war sie nicht allein gewesen. Björn war da gewesen, er als Allererster. Dann Ulf. Maybrit. Die bloße Erinnerung ließ sie unwillkürlich schlucken.
Auch Thomas hatte alles versucht, um sie vor dem Abgrund zu bewahren, in den sie nach Liannes Tod gestürzt war. Aber er hatte sie nicht retten können. Er ahnte bis heute nicht, was geschehen war. Wäre er ihr sonst bis nach Schweden gefolgt? Erneut bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, als sie daran dachte. Der Tod besaß eine unerträgliche Endgültigkeit. Er war wie eine Wand, hinter der ein Leben unwiderruflich verschwand. Eine Wand, an der sie sich die Fäuste blutig geschlagen hatte.
Sie schüttelte sich und zwang sich zurück in die Realität. Sie musste raus aus dem Haus, fort, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie hatte ein paar Besorgungen zu machen, die sie am Vortag schon hatte erledigen wollen, als Thomas’ unerwarteter Besuch sie aus dem Tritt gebracht hatte. Entschlossen griff sie nach ihren Autoschlüsseln und rief den Hund.
Es war ein ruhiger Morgen, der Himmel klar bis auf ein paar leichte Wolken, die Luft klirrend kalt, aber trocken. Der Hund tollte um sie herum, biss in den Schnee und verbellte eine Meise, die neben dem Garagentor dick aufgeplustert auf einem Zweig hockte. Nur wenige Tiere und Vögel zeigten sich im Winter, lediglich ihre Spuren fanden sich im Schnee, die bewiesen, dass die vereiste Landschaft nicht gänzlich vom Leben verlassen war.
Das Garagentor klemmte, und Caroline fluchte leise, als loser Schnee vom Dach auf sie herabstäubte, in ihren Nacken rieselte und ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Endlich sprang das Tor ächzend auf. Die Meise flog auf eine am Haus stehende Birke, und der Hund sprang hinterher, stemmte die Vorderläufe gegen den Stamm. Sein lautes Bellen hallte von den bewaldeten Berghängen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees wider.
»Es ist so einsam hier«, hatte Thomas zu Bedenken gegeben, als sie am Nachmittag seiner Ankunft ans Ufer hinuntergegangen waren. »Und du bist ganz allein als Frau …« Sein Blick war über die verschneite Berglandschaft geschweift, die kahlen runden Kuppen, über die der Wind selbst an ruhigen Tagen den Schnee in weißen Fahnen in den tiefblauen Himmel trieb. Dann hatte er sich ihr wieder zugewandt. »Hast du keine Angst?« In seiner Stimme und seinen Augen hatte sich die ganze Hilflosigkeit des Städters widergespiegelt.
Angst?, hatte sie fragen wollen. Warum sollte ich Angst haben? Hier gibt es nichts, wovor ich mich fürchten müsste,
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