Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Großvater schützend seine Hand über sie gehalten, und mit seinem Tod das Versprechen eingelöst, das er ihr Jahre zuvor gegeben hatte: Er hatte ihr sein Haus vererbt, in dem sie noch immer lebte, und genügend Land und Immobilien, um sie unabhängig zu machen. Doch das war nicht sein größtes Geschenk an sie gewesen. Das größte Geschenk war der schier unermessliche Fundus an Geschichten, mit denen er von klein auf ihre Phantasie beflügelt und ihr Mut gemacht hatte, mit denen er ihr Wege aufgezeigt und die Zuversicht gegeben hatte, auch dort weiterzugehen, wo es dunkel und unsicher wurde. Und das war es oft gewesen. Auch heute im Supermarkt, als wie aus dem Nichts Caroline vor ihr gestanden hatte. Caroline, die sie seit so vielen Jahren nicht gesehen hatte, die damals von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden war, als hätte es sie nie gegeben. Ihre einzige Freundin.
Fassungslos hatte sie in das vertraute Gesicht geblickt, das sich überhaupt nicht und gleichzeitig völlig verändert hatte. Wie war das nur möglich? Sie hatte dieses Gesicht berühren wollen, die feinen Fältchen um die Augen, die bittere Linie um den Mund, die von Schmerz und Leid zeugte. Fragen hatten ihr auf den Lippen gebrannt: Was ist geschehen? Wo bist du gewesen? Doch sie hatte sie nicht stellen können, sie war erstarrt angesichts der Fülle der Emotionen, die sie überfluteten, so dass sie sich in Distanz und Ablehnung geflüchtet hatte. Und alles, was geblieben war von diesem unverhofften Treffen, das einzige Bild, das sich ihr eingebrannt hatte und sie auf dem Nachhauseweg durch die einsame Winterstille verfolgte, war die Enttäuschung in Carolines Augen.
Es hatte sie danach gedrängt, allein zu sein und ihre Gedanken zu ordnen, doch als sie auf den schmalen, verschneiten Weg zum Haus eingebogen war, hatte sie durch die Bäume hindurch schon Ulfs Auto gesehen. Er hatte ihr die Tür geöffnet und geholfen, die Einkäufe hereinzutragen, während sie an Caroline denken musste und die Schatten unter seinen Augen und die ungewohnte Blässe in seinem Gesicht in neuem Licht gesehen hatte. Sein überraschender Besuch ergab plötzlich einen Sinn. Sie war nicht allein mit ihrer Unsicherheit. Es gab jemanden, den die Rückkehr der ehemaligen Freundin noch weit mehr verstörte als sie.
»Ich habe gerade Caroline im Supermarkt getroffen«, hatte sie beiläufig erwähnt, als sie ihre Einkäufe im Kühlschrank verstaute. »Wusstest du, dass sie hier ist?«
»Caroline?«, hatte Ulf gefragt, um Neutralität bemüht. »Du meinst … Lilli?«
Was für eine Komödie!
»Ja, ich meine Caroline Wolff«, war sie ihm ins Wort gefallen und hatte zufrieden bemerkt, wie die Muskeln im Gesicht ihres weltmännischen Cousins um Beherrschung kämpften. »Hast du mit ihr gesprochen?«, hatte er schließlich gefragt, und es hatte dieselbe drängende Anspannung in seiner Stimme gelegen wie bei Caroline.
»Wir haben uns kurz unterhalten«, hatte sie erwidert. »Sie hat nach dir gefragt.«
Hätte sie eine Bombe gezündet, es hätte nicht mehr Effekt gehabt. Ohne ein weiteres Wort war er aufgesprungen, hatte seine Jacke genommen und war zur Tür hinausgestürzt. Ihr Großvater war der Einzige gewesen, der Carolines Verschwinden seinerzeit nicht bedauert hatte. »Es ist das Beste, was Ulf passieren konnte«, hatte er damals gesagt. Er war schon alt und seine Stimme brüchig gewesen, doch seine Worte hatten noch immer Gewicht gehabt in der Familie. Zu lange hatte er die Geschicke der Svenssons in seiner herrischen Art bestimmt, als dass sie einfach darüber hinweggingen, wenn er sich tatsächlich noch einmal einmischte. Ausgerechnet jetzt fiel Maybrit diese Bemerkung wieder ein, und während sie noch in ihrem Wohnzimmer stand, das einmal das Wohnzimmer ihres Großvaters gewesen war und das jeden, der es heute betrat, an die Gemälde von Carl Larsson erinnerte, fragte sie sich, was ihr Großvater zu Carolines Rückkehr gesagt hätte.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Björn war am Apparat. »Ist Ulf da?«, wollte er wissen.
»Warum rufst du ihn nicht auf seinem Mobiltelefon an?«
»Weil es ausgeschaltet ist.«
Maybrit presste die Lippen zusammen. »Ich nehme an, er ist bei ihr. «
Sie hörte, wie sich Björn am anderen Ende der Leitung räusperte. »Wir sollten uns treffen und ein paar Dinge besprechen.«
7.
S ie war schmaler als auf dem Foto. Ernster. Das Haar in einem Zopf zusammengefasst. Es machte sie auf den ersten
Weitere Kostenlose Bücher