Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
einmal stellen.
»Weißt du noch, was du in diesem Moment gedacht hast, als Maybrit auf den Auslöser gedrückt hat?«, fragte er sie stattdessen.
»Du weißt noch, dass es Maybrit war?«, erwiderte sie überrascht.
Ich weiß noch so viel mehr, als du dir vorstellen kannst, war er versucht zu antworten, aber er nickte nur.
»Ich erinnere mich nicht, was mir in jenem Moment durch den Kopf gegangen ist, aber als wir dort unten auf dem Steg in der Sonne gelegen haben, habe ich darüber nachgedacht, ob ich überhaupt ein Kind haben will.«
»Du hast an Abtreibung gedacht?«, entfuhr es ihm, und er begriff, dass sie eine Abtreibung ebenso ohne sein Wissen durchgeführt hätte, wie sie ohne Ankündigung verschwunden war. Er hätte nie davon erfahren, dass sie überhaupt schwanger gewesen war.
Er erinnerte sich an das Gespräch, das er mit Björn vor wenigen Tagen geführt hatte. Sie macht die wichtigen Entscheidungen immer mit sich aus. Aber war es nicht etwas gewesen, das sie beide betraf?
»Zu dem Zeitpunkt hatten wir bereits beschlossen zu heiraten«, bemerkte er. »Hattest du Angst, ich würde einen Rückzieher machen, wenn ich von dem Kind erfahre?«
»Ich hatte keine Angst«, entgegnete sie ruhig und blätterte weiter. »Davor nicht.«
Wovor dann? Er hielt sich zurück. Es war nicht leicht.
Es folgten weitere Fotos aus jenem Sommer. Impressionen einer Zeit, über die er sich so lange verboten hatte nachzudenken, dass sie ihm jetzt wie die Erinnerungen eines Fremden erschienen und doch gleichzeitig eine beängstigende Macht entwickelten, einen Sog, gegen den er ankämpfte wie ein Schwimmer gegen die Strömung.
Dann war es vorbei, und er blickte nach dem Umschlagen einer weiteren Seite unvorbereitet auf das großformatige Foto eines dunkelhaarigen Kleinkindes, das unbeschwert in die Kamera lachte. Es gab keine Fotos einer hochschwangeren Caroline, keine Bilder des norwegischen Fischers, keine Babybilder.
Er spürte Carolines Blick auf sich und blätterte weiter, ohne aufzusehen. Das Kind wuchs heran, und er erkannte seine eigene Familie in der Haltung und den Zügen dieses heranwachsenden Wesens wieder. Er erkannte sich. Und Caroline. Er zog Vergleiche zu Håkans Töchtern, und er musste zugeben, dass Lianne bezaubernd gewesen war als Kind mit ihrem zarten Gesicht und den langen dunklen Locken, die Caroline ihr oft zu einem Kranz geflochten hatte, der wie eine Krone um ihren Kopf lag. Was empfand er beim Anblick dieser Fotos? Es war sein Kind, das ihm dort entgegenlächelte, und doch war sie eine Fremde. Die Begegnung mit ihr blieb eindimensional. Er hatte nie ihre Stimme gehört, ihr Lachen, nie ihre Tränen getrocknet. Wusste nicht, wie es sich anfühlte, ihr Gewicht auf seinem Arm zu spüren oder ihr kindliches Aufbegehren gegen die elterliche Autorität zu erleben. Sie blieb ein Gedanke, ein Traum, der niemals real werden konnte, weil sie tot war. Gestorben, bevor er auch nur einen Blick auf sie hatte werfen, auch nur ein Wort mit ihr hatte wechseln können. Er klappte das Album zu.
Das nächste enthielt nur wenige Fotos. Die erwachsene Lianne. Eine junge, attraktive Frau, die ihn in ihrem Ausdruck so sehr an Maybrit erinnerte, dass er seiner Irritation darüber nur schwer Herr wurde.
»Sie sieht selbstbewusst aus«, bemerkte er schließlich.
»Sie war selbstbewusst«, entgegnete Caroline.
»Was hat sie gemacht? Studiert? Gearbeitet?«
»Sie hat Sprachen studiert. Sie hatte sich gerade für ein Auslandssemester in Kanada beworben.«
»Und in ihrer Freizeit?«
Caroline lächelte. »Sport. Sie war wie besessen davon. Sie war im Bundeskader der Leichtathletinnen.«
Ulf presste die Lippen aufeinander. »Hat sie noch bei dir gewohnt?«, fragte er schließlich.
Caroline schüttelte den Kopf. »Sie ist vor einem halben Jahr ausgezogen, deswegen hatte … Thomas auch den Mut gefasst …«
»… dich zu fragen, ob du ihn heiraten würdest«, beendete Ulf den Satz für sie. »Hatte Lianne einen Freund?«
»Nichts wirklich Festes. Ich glaube, sie hatte Angst davor, sich zu binden. Wir haben hin und wieder darüber gesprochen. Es gab den ein oder anderen, mit dem sie manchmal ausging, aber sie war sehr zielorientiert und wollte sich nicht ablenken lassen.«
»Alles in allem eine sehr moderne und vielversprechende junge Frau«, merkte Ulf hölzern an. Die Formulierung war unglücklich und drückte nicht im Entferntesten aus, was er wirklich empfand, aber Caroline schien es nicht zu bemerken.
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