Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
schon davon, wie es war, ein Kind zu verlieren! Eine junge Frau, die man hatte heranwachsen sehen, ein junger Mensch voller Hoffnung und Ideen. Lianne hatte ihr ganzes Leben vor sich gehabt, und im Bruchteil einer Sekunde war alles zerstört, das Licht erloschen, das so hell, so leuchtend gestrahlt hatte. Der Alkohol hatte Liannes Tod die Schärfe genommen, er hatte den Schmerz gedämpft zu einem dumpfen Pochen, das ihr nicht mehr gefährlich werden konnte.
Ulf von dem Unfall zu erzählen hatte sie weit mehr aufgewühlt, als sie ihn hatte merken lassen. In den vergangenen Wochen hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Wenn sie allein war, hatte sie dafür gezahlt, hatten Verzweiflung und Trauer sie mit doppelter Macht überwältigt. Und jetzt dröhnte ihr Kopf. In dem Moment, in dem sie aufgestanden war, hatte sie die Wirkung des Alkohols gespürt. Caroline hatte gehofft, dass Ulf verstehen würde, was sie getrieben hatte, wenn er die Fotos sah. Aber seine Tochter war ihm fremd geblieben. Sie war ein Kind, das ihm ähnelte, mehr nicht. Seine Fragen zu Lianne waren von höflichem Interesse gewesen. Jene zu ihrem Tod hatte er aus beruflicher Neugier gestellt, nicht zuletzt, um zu verstehen, warum sie getötet hatte. Als ihr das bewusst geworden war, hatte sie sich geschämt für ihre Naivität. Was hatte sie erwartet? Dass er ihr tränenüberströmt gegenübersaß? Dass er trauerte um einen Menschen, den er nie kennengelernt hatte und nie kennenlernen würde, weil sie es verhindert hatte? Sie hatte geglaubt, er müsse für Lianne genauso empfinden wie sie. Vielleicht hätte er sie verstanden, wenn er selbst Kinder großgezogen hätte, wenn er all die Ängste und all die Freude erlebt hätte, die damit verbunden waren, einen jungen Menschen auf seinen Weg zu bringen. Aber er kannte das alles nicht. Wie sollte er, der Junggeselle, der sein ganzes Leben nur für sich selbst Verantwortung getragen hatte, wie sollte er sie unter diesen Umständen verstehen? Wie hatte sie darauf hoffen können? Er betrachtete sie aus seinem von Gesetzestexten und Vorschriften geprägten Universum, zeigte mit dem Finger auf sie, die Frau, die einen Mann getötet hatte aus Rache, purer Rache, einem niederen Beweggrund, weshalb jeder Richter dieser Welt sie wegen Mordes verurteilen würde.
Sie war wütend gewesen und enttäuscht, unglaublich enttäuscht von der Distanz zwischen ihnen, auch er war ihr wie ein Fremder vorgekommen, sie hatte nichts mehr gemein mit diesem Mann außer einer Liebesbeziehung, die seit fast drei Jahrzehnten vorbei war. All das war ihr durch den Kopf gegangen, als sie vor ihm gestanden und ihn angeschrien hatte.
Doch dann hatte er sie gepackt und geschüttelt, und was die ganze Zeit zwischen ihnen geschwelt hatte, war aufgeflammt. All ihre Wut und Enttäuschung, ihr Kummer und ihre Trauer hatten nicht genügt, die Anziehungskraft zu brechen, die er nach wie vor auf sie ausübte. Natürlich hatte der Alkohol geholfen, und hätte Ulf nicht die Reißleine gezogen, lägen sie vermutlich schon im Bett. Er stand noch immer vor ihr, um Beherrschung kämpfend, während er den Blick nicht von ihr abwenden konnte und sich seine Zerrissenheit in den Gesichtszügen spiegelte. Komm, wollte sie sagen, lass uns tun, was wir früher getan hätten, lass uns das Schicksal herausfordern, das uns in einer Laune hier eingesperrt hat. Aber sie kam nicht dazu, denn plötzlich flackerte das Licht und erlosch. Die Dunkelheit, die sie umgab, war so dicht wie die Stille, die sich augenblicklich im Haus ausbreitete, als das unterschwellige Rauschen und Brummen der elektrischen Geräte mit einem Schlag verstummte.
»Verdammt«, fluchte Caroline leise. »Der Strom.«
»Nur eine Unterbrechung«, hörte sie Ulfs Stimme. »Er kommt bestimmt gleich wieder.«
Es war eine eitle Hoffnung.
»In der Küche sind Kerzen«, sagte Caroline, während sie sich vorsichtig vorantastete. Ulf stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, und der tanzende Schein des Kaminfeuers ließ zumindest Umrisse sichtbar werden. Caroline bildete sich ein, die Kälte zu spüren, die ins Haus kroch. Die Heizungen waren elektrisch. Die Temperaturen lagen draußen unter Minus zwanzig Grad. Vor drei Tagen – waren seither tatsächlich erst drei Tage vergangen? – hatte Thomas sie gefragt, ob sie keine Angst hätte, hier draußen allein. Sie hatte daran gedacht, dass das Einzige, was sie fürchtete, ein Stromausfall im Winter war. Als Kind hatte sie mit ihren Eltern einmal zwei
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