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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Ulf gegenüber zu schämen. Sie hätte ihn nicht ohne ein Wort verlassen dürfen, jeder Mensch verdiente eine Erklärung, und wie oft hatte sie selbst nach ihrem Weggang gegen ihre Sehnsüchte angekämpft. Angst und Unwissenheit hatten sie damals verleitet zu gehen, aber wozu hatte der Verzicht geführt? Sie wusste, sie sollte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen, sollte Vernunft walten lassen, es gab keine zweite Chance, keine Zukunft für sie, nicht nach allem, was geschehen war.
    Ihre Blicke trafen sich.
    »Du musst mich hassen für das, was ich getan habe«, sagte sie.
    »Das kann ich nicht«, gestand er ruhig.
    »Aber ich habe einen Menschen getötet!« Tränen schossen ihr in die Augen.
    »Ja«, entgegnete er lediglich.
    Unsicher suchte sie in seinem Gesicht nach einer Erklärung für seine knappe Antwort. Wie konnte mit diesem einen, kleinen Wort alles gesagt sein? Doch dann begriff sie. Er hatte längst seine Entscheidung gefällt. Er war gekommen und hatte sie gesucht. Nicht wegen des Mordes oder des Haftbefehls. Er wäre nie zwischen ihnen zur Sprache gekommen, wenn sie ihn nicht darauf angesprochen hätte.

22.
    B jörn stieß die große Schaufel in den Schnee. Trotz der Kälte und des eisigen Windes spürte er, wie der Schweiß unter den vielen Kleidungsschichten an seinem Körper herablief. Die Müdigkeit zog sich von seinen Armen über seinen Rücken, eine sich allmählich verdichtende Schwere. Jedes erneute Anheben der Schaufel wurde zu einem Willensakt, der den Geist an den Körper band, ihn gnadenlos fokussierte und damit jeden gedanklichen Amoklauf unterband. Mehr Maschine als Mensch, die funktionierte bis zum Zusammenbruch. Björn und seine Mannschaft arbeiteten seit fast vierundzwanzig Stunden mit nur kurzen Pausen. Er war harte körperliche Arbeit gewohnt, sein Leben lang hatte er nichts anderes getan, doch auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, wusste er, dass er diesmal mit einer Verbissenheit dabei war, in der eine gefährliche Rücksichtslosigkeit lag. Gegenüber sich selbst und auch den anderen, die er genauso hart antrieb. Nur so hatten sie verhindert, dass die Stromversorgung für das gesamte Dorf zusammengebrochen war. Sie hatten Höfe und Häuser evakuiert, die Alten aus den Randgebieten ins Zentrum geholt, für den Notfall die Dieselvorräte und die Generatoren frei gehalten. Der Sturm tobte noch, doch der Schneefall war weniger geworden.
    Erschöpft ließ er die Schaufel für einen Moment sinken, starrte auf die Männer neben sich, kaum erkennbar in ihren wattierten Overalls, die Gesichter vermummt gegen die Kälte. Einer von ihnen sah auf, kam auf ihn zu, den Körper gebeugt gegen die Kraft des Windes. »Du solltest eine Pause machen«, schrie ihm der Mann entgegen. Es war Ole. »Du bist am längsten dabei. Wir schaffen es jetzt auch alleine.«
    Björn schüttelte den Kopf. Keine Pause. Er hatte es versucht. Doch sobald sein Geist nicht mehr auf das schiere Überleben und Durchhalten fixiert war, begannen die Gedanken zu wandern, und ein Gefühl der Hilflosigkeit bemächtigte sich seiner, das weitaus schlimmer war als die Erschöpfung und Kälte, gegen die er sich hier draußen behaupten musste. Die lange Narbe auf seinem Arm spannte, wie immer bei großer körperlicher Anstrengung, der Schmerz zog hinein bis in den Knochen. Es erschien ihm wie eine unmissverständliche Warnung, wenn er sich ins Gedächtnis rief, woher die Narbe rührte. Er verdrängte den Gedanken, indem er seine Arbeit wieder aufnahm und das Licht ignorierte, das verwaschen aus den Fenstern des Gemeinschaftshauses durch das Schneetreiben zu ihnen herüberleuchtete.
    Maybrit war dort, organisierte den Ablauf, achtete darauf, dass jeder mit Essen und heißen Getränken versorgt wurde, und hielt den Kontakt zum einzigen erreichbaren Arzt. Keiner außer ihr ahnte, was in ihm vorging, warum er hier draußen bis zur Erschöpfung arbeitete. Nein, sie ahnte es nicht nur, sie wusste es. Aber sie sagte nichts. Es war nicht ihre Art, sich einzumischen. Nicht mehr, und er beneidete sie um die Unabhängigkeit, die sie sich geschaffen hatte. Sie hatte den Pioniergeist ihrer Vorfahren geerbt, die Zielstrebigkeit und das Durchsetzungsvermögen, und ihre Liebe galt ausschließlich dem Land, auf dem sie lebte. Ihrem Haus. Und dem See. Diesen Dingen war sie verbunden, nicht aber den Menschen. Er hatte sie nur einmal in Tränen aufgelöst gesehen, vor vielen Jahren, als ein Braunbär ihren Hund getötet hatte. Sie hatte den

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