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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Lianne überfahren hat, wieder erschießen, wenn du noch einmal die Wahl hättest?«
    Sie antwortete nicht sofort. »Ist das so wichtig?«, fragte sie dann.
    »Es ist mir wichtig«, gab Ulf zu.
    »Eigentlich möchte ich nicht mehr darüber sprechen«, gestand sie. »Ist nicht alles dazu gesagt?« Die Aufregung um den Stromausfall und ihr Ausflug nach draußen in die eisige Kälte hatten die betäubende Wirkung des Alkohols aufgehoben, und sie war sich nicht sicher, ob sie einer erneuten Diskussion mit Ulf standhalten würde. Sie stülpte den langen Grillhandschuh über, den sie aus der Küche mitgenommen hatte, hob den Deckel vom Topf und rührte mit einem Holzlöffel den Eintopf um. Er war fast fertig.
    »Früher hast du aus purer Wut manchmal Dinge gesagt, die du gar nicht gemeint hast«, bemerkte Ulf.
    Sie setzte sich zurück. Der Hund träumte, und seine Krallen kratzten über den Boden. Das Geräusch jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und bevor sie sich versah, holte sie die Erinnerung ein. Ulfs Gesicht verschwamm, wurde zu einem anderen Gesicht, einem anderen Menschen. Er war in ihrem Alter gewesen, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger. Und er hatte so normal ausgesehen, so entsetzlich normal und nicht einmal unsympathisch auf den ersten Blick. Ein Mann Mitte vierzig mit Bauchansatz und dünner werdendem Haar. Sie hatte ihn überrumpelt mit ihrem Besuch, seine Hände waren fahrig über das Türblatt gestrichen, er hatte versucht zu lächeln und doch nur eine gequälte Grimasse zustande gebracht. Schließlich hatte er sie ins Büro hineingebeten. Es war Abend gewesen, seine Mitarbeiter waren bereits gegangen, sie hatte diesen Zeitpunkt bewusst gewählt. Dass er sie hereingelassen hatte, war sein entscheidender Fehler gewesen. Er hatte es ihr so leichtgemacht. Sie hätte nicht den Mut gehabt, auf offener Straße auf ihn zu schießen, und sie zweifelte, ob sie einen zweiten Besuch bei ihm gewagt hätte, wenn er sie abgewiesen hätte. Er hätte nur nicht öffnen müssen …
    »Lilli?«
    Sie zuckte zusammen, als Ulf ihren Arm berührte. »Was …?«
    »Du träumst mit offenen Augen.«
    Sie versuchte, die Erinnerungen an Alexander Molinan abzuschütteln, den Mann, der ihre Tochter überfahren hatte, aber es gelang ihr nicht. Stumm drängte er sich zwischen sie und Ulf, der Blick flehend und voller Angst, als er begriff, dass er sterben würde. Würde sie seinen Anblick jemals aus ihrem Gedächtnis löschen können?
    Sie zwang sich, Ulf anzusehen. »Ich würde es nicht noch einmal tun«, gestand sie. »Der Tod dieses Mannes war genauso sinnlos wie Liannes Tod und konnte mir weder den Schmerz noch die Wut nehmen … Tatsächlich hat er es nur noch schlimmer gemacht.«
    Ulfs Erleichterung war greifbar. Sie ahnte, dass ihm eine weitere Frage auf der Zunge lag. Aber er stellte sie nicht. Nicht jetzt. Vielleicht später. Stattdessen stand er auf und kam gleich darauf mit zwei tiefen Tellern, Löffeln und zwei Flaschen Bier zurück. Sie aßen schweigend, jeder in die eigenen Gedanken versunken.
    Danach schubste sie den Hund zur Seite und legte sich nach Ulfs Vorbild ein paar Kissen aufeinander. Sie strich über das dichte grauweiße Schaffell, auf dem sie halb lag, halb saß, und fuhr dann dem Hund über das Fell, der sich unter der Berührung streckte und zufrieden knurrte. Sie betrachtete Ulf. Der Widerschein des Feuers tanzte über sein Gesicht, betonte seine schmale gerade Nase und das eckige Kinn. Im Gegensatz zu seinem kurzen dunklen Haar war der Bartschatten, der inzwischen die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte, fast grau. Wie hatte sie dieses Gesicht geliebt, wie hatte sie sich nach einem Blick aus diesen Augen verzehrt. Und wie schwer hatte sie es ihm damals gemacht aus Angst vor diesen Gefühlen, die sie in seiner Nähe immer wieder überwältigt hatten. Im selben Maß, wie sie ihn geliebt hatte, hatte sie die Abhängigkeit und Unfreiheit gehasst, in die sie diese Liebe zu führen drohte. Später, viel später erst, hatte sie begriffen, dass Liebe immer bedeutete, einen Teil seiner selbst zu opfern, und dass die Gefahr, sich in einer Liebe zu verlieren, eine der größten im Leben war. Die Sage von der Frau und dem Bussard war die perfekte Parabel, jeder fühlende Mensch musste sich irgendwann der Frage stellen, was ihm das Erlebnis einer großen, alles verzehrenden Liebe wert war. Ob er den Mut hatte, sich darauf einzulassen.
    Im Laufe der Jahre hatte sie begonnen, sich ihres unreifen Verhaltens

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