Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Bären aufgespürt und erschossen, hatte ohne Widerspruch die ihr auferlegte, nicht unerhebliche Strafe gezahlt und sich nie wieder einen Hund angeschafft.
Jetzt bemerkte er, wie die Tür des Gemeinschaftshauses sich öffnete und die Frau, über die er gerade nachgedacht hatte, heraustrat. Sie trug einen langen Daunenmantel, die fellgesäumte Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und stapfte in ihren dicken Winterstiefeln durch Wind und Schnee genau auf ihn zu. »Keiner hat etwas davon, wenn du hier mit einem Infarkt zusammenbrichst, weil du dich überarbeitest«, rief sie, als sie ihn erreichte.
»Geh wieder rein«, wehrte er ab.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier stehen, bis du mitkommst.«
Die Männer um ihn herum sahen auf, dankbar für die Ablenkung. Björn stieß mit einem Fluch die Schaufel in den Schnee und folgte Maybrit zum Gemeinschaftshaus. Die Wärme, die ihm schon in der Tür entgegenströmte, zog die letzte Kraft aus ihm. Ohne sich seiner Winterkleidung zu entledigen, sank er auf einen freien Stuhl nahe der Tür. Leises Stimmengemurmel füllte den Raum. Die Fensterscheiben waren von innen beschlagen, es roch nach Eintopf, Glühwein und Kaffee und zu vielen Menschen auf zu engem Raum. Vor allem Ältere waren hier. Sie unterhielten sich leise, einige lasen, andere waren auf ihren Stühlen eingenickt. Björn zog sich umständlich die Handschuhe aus und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Jede Bewegung war mit einem Mal zu viel. Er spürte Maybrits Blick auf sich, während sie ihren Mantel aufhängte und die Stiefel auszog. »Bleib einfach sitzen. Ich hole dir etwas zu trinken«, sagte sie.
Augenblicke später hielt er einen Becher Kaffee in der Hand. Er trank in kleinen Schlucken, wärmte seine Finger an dem Porzellan und drückte seinen schmerzenden Rücken gegen die Lehne des Stuhls. Die Müdigkeit zerrte an ihm, ließ selbst die kleinste Bewegung zu einem Kraftakt werden. Es reichte nicht, seine Gedanken vom Kreisen abzuhalten.
Maybrit hatte sich auch einen Kaffee mitgebracht und setzte sich zu ihm. »Hast du nicht letzte Nacht noch zu mir gesagt, dass Ulf und Lilli einiges aufzuarbeiten haben und dass es für uns alle das Beste wäre, wenn sie sich endlich aussprechen würden? Wo ist deine Gelassenheit geblieben?«
»Gestern wusste ich noch nicht, dass sie auf engstem Raum eingeschlossen sein würden«, erinnerte er sie.
Sie trank einen Schluck Kaffee und sah ihn über den Rand ihres Bechers hinweg an. »Was fürchtest du mehr, dass sie sich gegenseitig umbringen oder dass sie miteinander ins Bett gehen?«
»Ganz ehrlich, Maybrit«, antwortete er trocken. »Ich fürchte, dass sie erst miteinander schlafen und sich dann gegenseitig umbringen.«
Etwas glimmte auf in Maybrits Augen, und ihre Mundwinkel zuckten. Im verzweifelten Bemühen um Beherrschung biss sie sich auf die Lippe, jedoch vergeblich. Björn starrte sie zuerst ungläubig an, als sie zu lachen begann, doch dann sprang der Funke über, und die Anspannung der vergangenen vierundzwanzig Stunden entlud sich auch bei ihm in einem schallenden Gelächter. Völlig außer Atem wischten sie sich beide nach einer Weile die Tränen aus dem Gesicht und schnappten nach Luft. Um sie herum war es still geworden, und sie spürten die Augen aller Anwesenden auf sich. Björn räusperte sich, und Maybrit fuhr sich mit der Hand durch das Haar.
Stühle wurden gerückt, und allmählich begannen die Gespräche wieder.
»Tut mir leid«, sagte Maybrit leise.
Björn schüttelte lächelnd den Kopf. »Muss es nicht. Das war überfällig.« Er stellte seinen Kaffeebecher ab und reckte sich. »Ich glaube, jetzt kann ich nach Hause fahren und ein paar Stunden schlafen.« Schwerfällig stand er auf. Maybrit folgte ihm zur Tür, wo er sie kurz in den Arm nahm und zum Abschied auf beide Wangen küsste. Er hatte das in der Öffentlichkeit noch nie getan, nicht bei ihr, und er spürte, wie sie sich versteifte, es dann aber geschehen ließ.
Draußen umtosten ihn in der Dunkelheit Schnee und Wind. Dank ihres unermüdlichen Einsatzes waren die Straßen im Ort jedoch nach wie vor befahrbar. Er startete den Motor seines Pick-ups, und während die Scheiben frei tauten, fegte er den Schnee vom Fahrzeug. Als er in seinen Wagen stieg, fiel sein Blick auf einen schwarzen Wollhandschuh auf dem Beifahrersitz. Carolines Handschuh. Er musste ihr auf dem Heimweg nach dem Skifahren aus der Tasche gefallen sein. Björn nahm ihn und legte ihn ins Handschuhfach, und dabei
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