Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
hörte er plötzlich wie aus weiter Ferne ihre Stimme: »Ich habe niemanden mehr auf dieser Welt, Björn, niemanden außer Tante Andra.« Für einen Moment verblassten der Schnee und die Dunkelheit und es war Frühling und er war mit ihr am Seeufer, wo die Sonne helle Lichter auf ihr blondes Haar warf. Er hatte sie im Arm gehalten, sie festgehalten und getröstet. »Du hast uns, Lilli«, hatte er geantwortet. »Du bist nicht allein.«
Voller Schmerz hatte sie ihre großen Augen auf ihn gerichtet und den Kopf geschüttelt. »Das ist nicht dasselbe«, hatte sie leise erwidert. »Du weißt es.« Und eine tiefe Einsamkeit hatte in ihrer Stimme gelegen, wie sie niemand bei einem achtzehnjährigen Mädchen erwarten würde. Sie hatten am Seeufer gesessen, an der Stelle, wo sie ihre Eltern gefunden hatten und wo sie später versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. »Deine Eltern hätten das nicht gewollt«, hatte er sie beschworen.
»Aber ich kann nicht allein zurückbleiben …«
Sie war nie gut darin gewesen, Schmerz auszuhalten.
»Sie ist zerbrechlich«, hatte seine Mutter einmal gesagt, »und wenn du versuchst, sie festzuhalten, zerstörst du sie.«
In den folgenden Jahren hatte er sich oft gefragt, was er an jenem Tag zerstört hatte, als er sie ins Leben zurück gezwungen hatte, ob es nicht besser gewesen wäre, sie gehen zu lassen. Sie hatte um ihren Tod gekämpft. Bei dem Gedanken daran griff er intuitiv an seinen Arm, spürte die Narbe und sah wieder die rasiermesserscharfe Klinge des Teppichmessers in der Sonne blitzen. Überall war ihr Blut gewesen. Als er ihr das Messer abnehmen wollte, hatte sie sich gewehrt, ihm dabei mit der scharfen Klinge seine Haut aufgerissen und schließlich mit einem hässlich schabenden Geräusch den Knochen getroffen.
»Der Tod ihrer Eltern hat sie verändert«, sagten alle. Björn hatte gewusst, dass es nicht nur der Verlust der Eltern war, sondern auch die eigene Todeserfahrung, die sie verändert hatte. Im Grenzland zwischen Leben und Sterben hatte sie ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit für immer verloren.
Er war damals monatelang aus Alpträumen aufgeschreckt, war mitten in der Nacht aufgestanden und zu ihrem Zimmer gegangen, als sie bei ihm und seinen Eltern gelebt hatte, und hatte ihren ruhigen Atemzügen gelauscht, um sich zu vergewissern, dass sie lebte. Manchmal war sie aufgewacht und hatte ihn angesehen. »Du wirst nie darüber reden, oder?«, hatte sie ihn einmal gefragt.
»Nein, das werde ich nicht«, hatte er ihr versichert und sich gewundert, dass sie sich seiner Verschwiegenheit versichern musste. Es gab Erlebnisse, die waren zu intim, um sie einem anderen Menschen mitzuteilen. Selbst nach dreißig Jahren noch.
Als er sein Haus erreichte, fragte er sich, welchen Sinn es hatte, sich mit Dingen zu beschäftigen, die so weit in der Vergangenheit lagen. Bisweilen war es besser, einen Schlussstrich zu ziehen, zu vergessen und vielleicht sogar zu vergeben, statt im Bestreben, alles bis ins Kleinste aufzuarbeiten, alte Wunden ständig neu aufzureißen. Er stellte seinen Wagen im vorderen Teil der Auffahrt ab, wo die Räumfahrzeuge den Schnee geräumt hatten, und hoffte nur, dass er den Pick-up nach ein paar Stunden nicht würde ausgraben müssen. Die Müdigkeit machte seine Schritte schwer, als er die wenigen Meter zum Haus durch den aufgetürmten Schnee stieg. Bevor er die Haustür hinter sich schloss, warf er einen letzten Blick in das Schneetreiben. Ob Caroline und Ulf einander jemals vergeben konnten? Er wünschte es ihnen sehr.
23.
U lf betrachtete Caroline und versuchte vergeblich, der Bitterkeit Herr zu werden, die ihn umso mehr erfüllte, wie die Nähe zwischen ihnen wuchs und die alte Vertrautheit zurückkehrte. Er fühlte sich betrogen, wie ein Verdurstender, dem man Wasser zeigte, ohne ihn trinken zu lassen. Alles in ihm begehrte auf gegen das Schicksal, das ihm die Frau zurückgebracht hatte, nach der er sich all die Jahre verzehrt hatte, nur um sie ihm im gleichen Atemzug wieder zu nehmen. Sie konnte nicht bleiben und er ihr nicht folgen. Kurzum: Es gab keine Zukunft für sie. Er konnte sie nicht schützen vor dem Gesetz, nicht bei der Schwere ihres Verbrechens. Er konnte ihr nur Zeit verschaffen, ihr einen Vorsprung geben. »Sein Tod war genauso sinnlos wie Liannes Tod und hat mir weder den Schmerz noch die Wut nehmen können«, hatte sie gesagt, und das Bild, wie sie dabei auf ihre Hände geblickt hatte, als gehörten sie nicht zu ihr, auf diese
Weitere Kostenlose Bücher