Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
die Seiten um und streiche mit dem Finger über die Bilder. Einige sind Klassenfotos, die Mädchen sind in Dreierreihen platziert. In der ersten Reihe sitzen sie mit zusammengekniffenen Knien und im Schoß gefalteten Händen. Die mittlere Reihe von Mädchen steht, genau wie die dritte, diese aber vermutlich auf einer unsichtbaren Bank. Ich lese die Bildunterschriften, studiere die Klassen und Jahrgänge.
Da ist sie - meine Geliebte - die Hure der Huren. In der zweiten Reihe. Die Vierte von rechts. Sie trägt einen braunen Bob. Ein angedeutetes Lächeln auf ihrem runden Gesicht. Damals warst du achtzehn Jahre alt und ich noch zehn Jahre weit weg. Zehn Jahre. Wie viele Sonntage sind das?
Das Jahrbuch unter den Arm geklemmt, hole ich mir ein weiteres Bier. Oben summt der Computer auf meinem Schreibtisch. Ich gebe ein Passwort ein und rufe ein Online-Telefonbuch auf. Der Bildschirm baut sich neu auf. Im Abschlussjahrgang von 1988 waren achtundvierzig Mädchen. Achtundvierzig Namen. Heute werde ich sie nicht finden. Nicht heute, aber bald.
Vielleicht gucke ich mir das Video noch mal an. Ich sehe so gern, wie sie fällt.
5
Charlie trägt Jeans und ein Sweatshirt und tanzt mit Emma zu laut aufgedrehter Musik im Wohnzimmer. Sie hebt ihre Schwester auf ihre Hüfte, wirbelt sie herum und lässt sie nach hinten sinken. Emma kichert und prustet.
»Vorsichtig. Nicht, dass ihr schlecht wird.«
»Guck mal unser neues Kunststück.«
Charlie hebt Emma auf ihre Schultern, beugt sich vor und lässt die Kleine an ihrem Rücken hinunterkrabbeln.
»Ganz toll. Ihr solltet zum Zirkus gehen.«
Charlie ist den letzten paar Monaten so groß geworden, dass es schön ist, sie wieder wie ein Kind mit ihrer Schwester spielen zu sehen. Ich möchte nicht, dass sie zu schnell älter wird. Ich möchte nicht, dass sie eins von diesen Mädchen wird, die man mit gepierctem Bauchnabel und »I slept with your boyfriend«-T-Shirts durch Bath streunen sieht.
Julianne hat eine Theorie. Immer und überall geht es um Sex, nur nicht im wirklichen Leben. Sie meint, auch wenn Teenager sich vielleicht kleiden wie Paris Hilton und tanzen wie Beyoncé, bedeute das nicht, dass sie Amateurpornos drehen oder auf Kühlerhauben Sex haben. Lieber Gott, mach, dass sie Recht hat.
Ich kann die Veränderungen an Charlie bereits erkennen. Sie macht diese einsilbige Phase durch, in der man keine Worte an seine Eltern verschwendet. Sie spart sie für ihre Freundinnen auf und verbringt Stunden damit, SMS zu versenden und zu chatten.
Als wir aus London weggezogen sind, haben Julianne und ich überlegt, sie auf ein Internat zu schicken, aber ich wollte ihr
jeden Abend einen Gutenachtkuss geben und sie jeden Morgen wecken. Julianne meinte, ich würde versuchen, die Zeit wieder gut zu machen, die ich nicht mit meinem Vater, Gottes Leibarzt im Wartestand, verbracht hätte, der mich, als ich acht war, auf ein Internat geschickt hat.
Vielleicht hat sie recht.
Julianne kommt nach unten, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hat. Sie hat in ihrem Arbeitszimmer gearbeitet, Dokumente übersetzt und E-Mails verschickt. Ich fasse sie um die Hüfte, und wir tanzen zu der Musik.
»Ich finde, wir sollten für unseren Tanzkurs üben«, sage ich.
»Was meinst du?«
»Am Dienstag geht’s los. Latein für Anfänger - Samba und Rrrrrumba!«
Sie macht plötzlich ein langes Gesicht.
»Was ist los?«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich muss morgen Nachmittag zurück nach London. Wir fliegen gleich Montag früh nach Moskau.«
»Wir?«
»Dirk.«
»Oh, Dirk, der Arsch.«
Sie sieht mich ärgerlich an. »Du kennst ihn doch gar nicht.«
»Kann er keinen anderen Dolmetscher finden?«
»Wir arbeiten seit drei Monaten an diesem Deal. Er will keinen anderen Dolmetscher. Und ich will die Sache nicht jemand anderem übergeben. Tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen.«
»Schon okay. Du hast es vergessen.«
Mein Sarkasmus macht sie wütend.
»Ja, Joe. Ich habe es vergessen. Mach bitte keine große Sache draus.«
Es entsteht ein unbehagliches Schweigen. Eine Pause zwischen
zwei Songs. Charlie und Emma haben aufgehört zu tanzen.
Julianne blinzelt zuerst. »Es tut mir leid. Ich bin am Freitag zurück.«
»Dann sage ich die Tanzstunde ab.«
»Du kannst doch hingehen. Du hast bestimmt eine Menge Spaß.«
»Aber ich war noch nie bei einer Tanzstunde.«
»Es ist ein Anfängerkurs. Niemand erwartet, dass du Fred Astaire bist.«
Der Tanzkurs war meine Idee. Das heißt,
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