Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
aus Glas.
Es geht nicht um Liebe, es geht ums Vergessenwerden. Wir existieren nur, wenn andere an uns denken. Es ist wie mit einem Baum mitten im Wald, der umstürzt, ohne dass jemand es mitbekommt. Wem außer den Vögeln ist das nicht scheißegal?
18
Ich hatte einmal einen Patienten, der fest davon überzeugt war, sein Kopf sei voller Meerwasser und ein Krebs würde darin hausen. Als ich ihn fragte, was mit seinem Gehirn geschehen sei, erklärte er mir, dass es von Außerirdischen mit einem Strohhalm herausgesaugt worden sei.
»So ist es besser«, insistierte er. »Jetzt hat der Krebs mehr Platz.«
Diese Geschichte erzähle ich meinen Studenten und ernte einen Lacher. Die erste Semesterwoche liegt hinter ihnen. Sie sehen gesünder aus. Zweiunddreißig sind zu dem Tutorium erschienen, das in einem hässlichen modernen Raum mit niedrigen Decken und Rigipswänden stattfindet, die zwischen bemalten Trägern montiert sind.
Auf dem Tisch vor mir steht ein großer, mit einem weißen Tuch zugedeckter Glaskrug. Meine Überraschung. Ich weiß, dass sie sich fragen, was ich ihnen zeigen werde. Ich habe sie lange genug warten lassen.
Ich fasse die Zipfel des Tuches und lüfte es. Der Stoff bauscht sich und gibt den Blick auf ein in Formalin konserviertes menschliches Gehirn frei.
»Das ist Brenda«, erkläre ich. »Ich weiß nicht, ob das ihr richtiger Name ist, aber ich weiß, dass sie achtundvierzig war, als sie starb.«
Ich streife Handschuhe über und nehme das gummiartige graue Organ in beide Hände. Es tropft auf den Tisch. »Möchte irgendjemand sie auch mal halten?«
Niemand rührt sich.
»Ich habe noch mehr Handschuhe.«
Trotzdem finden sich keine Freiwilligen.
»Jede Religion, jedes Glaubenssystem in der Geschichte hat behauptet, dass es in uns eine Kraft gibt - eine Seele, ein Gewissen, den heiligen Geist. Niemand weiß, wo diese innere Kraft sitzt. Es könnte im großen Zeh sein, im Ohrläppchen oder in einer Brustwarze.«
Gedämpftes Lachen und Kichern bestätigt mir, dass sie zuhören.
»Die meisten Menschen würden vielleicht eher das Herz oder den Verstand als logischen Sitz vermuten. Sie sind eingeladen zum Mitraten. Wissenschaftler haben mit Röntgenstrahlen, Ultraschall, Magnetresonanz- und Computertomografie jeden Teil des menschlichen Körper kartografiert. Seit vierhundert Jahren sind Menschen in Scheiben und Würfel geschnitten, seziert, sondiert und analysiert worden, doch bis jetzt hat noch niemand ein Geheimfach, einen schwarzen Punkt, eine magische innere Kraft oder ein strahlendes inneres Licht gefunden. Keinen Geist in einer Flasche, keinen Geist in der Maschine, keinen Zwerg, der manisch auf einem Fahrrad vor sich hin strampelt.
Was können wir daraus schließen? Sind wir nichts als Fleisch und Blut, Neuronen und Nerven, eine großartige Maschine? Oder gibt es in uns eine Seele, einen Geist, den wir nicht sehen oder verstehen können?«
Jemand hebt die Hand. Eine Frage! Es ist Nancy Ewers - die Reporterin der Studentenzeitung.
»Was ist mit unserem Selbstbewusstsein?«, fragt sie. »Das muss uns doch von Maschinen unterscheiden.«
»Vielleicht. Glauben Sie, dass wir mit diesem Selbstbewusstsein geboren werden, mit diesem Gefühl eines eigenen Ichs, einer einzigartigen Persönlichkeit?«
»Ja.«
»Vielleicht haben Sie recht. Ich möchte, dass Sie über eine andere Möglichkeit nachdenken. Was, wenn unser Bewusstsein, unser Ich-Gefühl sich aus unseren Erfahrungen herausbildet
- unseren Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen? Anstatt mit einer Blaupause unserer Existenz auf die Welt zu kommen, sind wir das Produkt unseres Lebens und eine Reflexion dessen, wie andere uns sehen. Wir werden eher von außen als von innen erleuchtet.«
Nancy lässt sich schmollend auf ihren Platz zurücksinken. Um sie herum machen sich Leute wie wild Notizen. Ich habe keine Ahnung, warum. Es wird nicht in der Prüfung vorkommen.
Nach Ende des Seminars fängt Bruno Kaufman mich ab.
»Hallo, alter Junge, ich dachte, ich könnte dich vielleicht zu einem Mittagessen überreden.«
»Ich bin schon verabredet.«
»Ist sie hübsch?«
Ich sehe Ruiz vor mir und verneine die Frage. Bruno geht weiter neben mir. »Scheußliche Geschichte, das auf der Brücke letzte Woche, absolut scheußlich.«
»Ja.«
»So eine nette Frau.«
»Du kanntest sie?«
»Meine Exfrau ist mit Christine zur Schule gegangen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du mal verheiratet warst.«
»Ja. Maureen hat es ziemlich schwer
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