Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Sie ist gut. Besser als jeder Therapeut. Beängstigend gut.
»Können Sie mich in die Stadt fahren?«, fragt Darcy mich. »Ich brauche ein paar Sachen.«
»Du hättest mich fragen sollen. Ich hätte sie dir mitbringen können«, antwortet Julianne.
»Ich hab nicht daran gedacht.«
Julianne überspielt ihre Verärgerung mit einem schmallippigen Lächeln. Darcy geht nach oben, um sich umzuziehen.
Julianne fängt an, Lebensmittel auszupacken. »Sie kann nicht endlos hierbleiben, Joe.«
»Ich habe heute ihre Tante in Spanien angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Außerdem rede ich mit der Rektorin ihrer Schule.«
Julianne nickt, nur teilweise zufrieden. »Nun, morgen führe ich Gespräche mit weiteren Kindermädchen. Wenn ich jemanden finde, brauchen wir das Gästezimmer. Darcy muss Platz machen.«
Sie öffnet die Kühlschranktür und legt die Eier einzeln in die Ablage.
»Erzähl mir, was heute Morgen passiert ist.«
»Eine weitere Frau ist tot.«
»Wer ist es?«
»Christine Wheelers Geschäftspartnerin.«
Julianne verschlägt es die Sprache. Sie starrt auf die Grapefruit in ihrer Hand und überlegt, ob sie im Begriff war, sie in den Kühlschrank zu legen oder herauszunehmen. Mehr will sie gar nicht hören. Mir sind Einzelheiten wichtig, ihr nicht. Sie schließt den Kühlschrank, geht um mich herum und nimmt ihr stummes Urteil mit nach oben.
Ich wünschte, ich könnte ihr begreiflich machen, dass ich nicht freiwillig in diese Geschichte hineingeraten bin. Ich habe nicht aus freien Stücken zugesehen, wie Christine Wheeler in den Tod gesprungen ist, es war nicht meine Entscheidung, dass ihre Tochter vor unserer Tür stand. Julianne hat immer meinen Gerechtigkeitssinn und meinen Hass auf alle Verlogenheit geliebt. Jetzt behandelt sie mich, als hätte ich nur noch meine
Kinder großzuziehen, ein paar Vorlesungen zu halten und darauf zu warten, dass Mr. Parkinson stiehlt, was er mir nicht schon genommen hat.
Selbst als Ruiz gestern zum Abendessen da war, hat es lange gedauert, bis sie sich entspannt hat.
»Ich bin überrascht, Vincent«, erklärte sie ihm. »Ich dachte, du hättest Joe das ausgeredet.«
»Was?«
»Diesen ganzen Unsinn.« Sie sah ihn über den Rand ihres Weinglases hinweg an. »Ich dachte, du bist in Pension. Warum spielst du nicht Golf?«
»Ehrlich gesagt, habe ich einen Auftragskiller engagiert, mich zu erledigen, wenn man mich je in karierter Hose aus dem Haus gehen sieht.«
»Kein Golfer.«
»Nein.«
»Und was ist mit Bowling oder einem Wohnwagen, mit dem du über Land fahren könntest?«
Ruiz lachte nervös und sah mich an, als ob er mich doch nicht mehr um mein Leben beneiden würde.
Aus dem ersten Stock dringen laute Stimmen. Julianne schreit Darcy an.
»Was machst du da? Weg von meinen Sachen.«
»Aua! Sie tun mir weh.«
Ich nehme zwei Stufen auf einmal und treffe die beiden in unserem Schlafzimmer an.
Julianne hält Darcys Unterarm so fest gepackt, dass das Mädchen sich ihrem Griff nicht entwinden kann. Darcy steht vorgebeugt und drückt beide Hände auf den Bauch, als wolle sie etwas verstecken.
»Was ist hier los?«
»Ich habe sie dabei erwischt, wie sie meine Sachen durchwühlt hat«, sagt Julianne. Ich blicke zu der Schminkkommode. Die Schubladen stehen auf.
»Hab ich nicht«, sagt Darcy.
»Was hast du denn gemacht?«
»Nichts.«
»Wie nichts sieht es aber nicht aus«, erwidere ich. »Was hast du gesucht?«
Sie wird rot. Ich habe sie noch nie erröten sehen.
Sie richtet sich auf und lässt die Arme sinken. Im Schritt ihrer Trainingshose ist ein dunkelroter Fleck sichtbar.
»Ich habe meine Regel bekommen. Ich habe im Bad nachgesehen, aber ich habe keine Slip-Einlagen gefunden.«
Julianne wirkt gedemütigt. Sie lässt Darcy los und versucht, sich zu entschuldigen.
»Es tut mir so leid. Du hättest etwas sagen sollen. Du hättest mich doch fragen können.«
Ich stehe immer noch ratlos da, als sie Darcy bei der Hand nimmt und ins Bad führt. Bevor sie die Tür schließt, begegnen sich unsere Blicke. Normalerweise ist Julianne so selbstsicher und unerschütterlich, aber in Darcys Gegenwart wird sie ein anderer Mensch, und dafür gibt sie mir die Schuld.
26
Ich war einunddreißig Jahre alt, als ich begriff, was es heißt, jemanden sterben zu sehen. Ein paschtunischer Taxifahrer mit Schuppenflechte an den Gelenken hauchte vor meinen Augen sein Leben aus. Wir haben ihn gezwungen, fünf Tage lang zu stehen, bis seine Füße zu der Größe von
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