Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Mann aus dem Zug.«
»Wo?«
»Auf dem Treppenabsatz bei den Fahrkartenautomaten.«
»Derselbe Mann?«
»Ja.«
»Bist du dir sicher.«
»Ja, ich bin mir sicher.«
Sie richtet sich auf und reibt sich die Oberarme, als wäre ihr plötzlich kalt.
»Habe ich etwas Falsches getan?«, fragt sie.
»Nein.«
»Weshalb fragen Sie nach ihm?«
»Vielleicht ist es gar nichts.«
Sie zieht sich die Bettdecke über die Schultern und lehnt sich an die Wand. Ihr Blick streift mich auf seltsame Weise.
»Kennen Sie dieses Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird?«, fragt sie. »Etwas Furchtbares, das Sie nicht aufhalten können, weil Sie nicht wissen, was es ist.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Warum fragst du?«
»So ein Gefühl hatte ich an diesem Freitag, als ich Mum nicht erreichen konnte. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt.« Sie lässt den Kopf sinken und starrt auf ihre Knie. »Ich habe an dem Abend für sie gebetet, aber das war wohl zu spät, was? Niemand hat mich erhört.«
29
DI Cray hat sechs Kartons bei uns zu Hause anliefern lassen. Am Morgen müssen sie wieder im Einsatzraum des Reviers sein. Ein Kurier wird sie kurz nach Mitternacht abholen.
In den Kartons befinden sich Zeugenaussagen, Rekonstruktionen zeitlicher Abläufe, Telefonunterlagen und Tatortfotos zu beiden Morden. Ich habe es geschafft, sie von Julianne unbemerkt ins Haus zu schmuggeln.
Ich schließe die Tür zu meinem Arbeitszimmer ab, setze mich und nehme mir den ersten Karton vor. Mein Mund fühlt sich trocken an, aber diesmal kann ich es nicht meinen Tabletten zuschreiben. Vor mir stehen in Kartons verpackt die Belege zweier Leben und zweier Tode. Nichts wird diese Frauen wieder zurückbringen, und nichts kann ihre Gefühle weiter verletzen, trotzdem fühle ich mich wie ein ungebetener Gast, der ihre Unterwäsche durchwühlt. Fotos. Zeugenaussagen. Abläufe. Videos. Versionen der Vergangenheit.
Es heißt, ein Mal ist ein Ereignis, zwei Mal ist Zufall, und drei Mal ist ein Muster. Ich habe nur zwei Verbrechen, über die ich nachdenken kann. Die beiden Opfer, Christine Wheeler und Sylvia Furness, waren gleich alt. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Beide waren Mütter junger Töchter. Ich versuche mir ihr jeweiliges Leben vorzustellen, die Orte, an denen sie waren, die Menschen, die sie getroffen, die Erfahrungen, die sie gemacht haben.
In nur achtundvierzig Stunden haben die Detectives eine Biografie von Sylvia Furness, geborener Ferguson, zusammengetragen. Geboren 1972, aufgewachsen in Bath, Schülerin an der Oldfield School for Girls. Ihr Vater war Transportunternehmer,
ihre Mutter Krankenschwester. Sylvia ging in Leeds auf die Universität, brach das Studium jedoch im zweiten Jahr ab, um ausgiebig zu reisen. Sie arbeitete auf Charterschiffen in der Karibik, wo sie in St. Lucia auf den Westindischen Inseln ihren Ehemann Richard Furness kennenlernte. Er hatte sein Studium für ein Jahr unterbrochen, um Jachten reicher Europäer zu überführen. Sie heirateten 1994. Ein Jahr später kam Alice. Richard Furness machte seinen Abschluss an der Universität von Bristol und hat seither für zwei große Pharmaunternehmen gearbeitet.
Sylvia war ein Party-Girl, das sich gerne mit Freundinnen traf und tanzen ging. Christine dagegen war still, kein bisschen abenteuerlustig, fleißig und zuverlässig, hatte keinen Freund und kein aktives Sozialleben. Die beiden Frauen hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Interessanterweise hat Sylvia einen Kursus in Selbstverteidigung belegt. Karate. In diesem Fall hat es ihr nicht geholfen, sich zu wehren. Man hat keinerlei Spuren eines Kampfes gefunden. Sie hat sich gefügt. Der Kissenbezug über ihrem Kopf war eine Allerweltsmarke. Die Handschellen gehörten ihrem Ehemann - erworben in einem Sex-Shop in Amsterdam -, »um ihr Liebesleben aufzupeppen«.
Woher wusste der Mörder von den Handschellen? Er muss in Sylvias Wohnung gewesen sein, eingeladen oder auch nicht. Sie hat keinen Diebstahl oder Einbruch gemeldet. Vielleicht hat Ruiz recht, und es ist ein ehemaliger Liebhaber oder Freund.
Ich fange an, laut zu denken und mit ihm zu reden, um zu verstehen, wie ein Jäger von seiner Sorte denkt und fühlt. »Du wusstest so viel über sie - über ihre Häuser, ihre Aktivitäten, ihre Töchter, ihre Schuhe … Hast du ihnen gesagt, was sie anziehen sollen?«
Es klopft. Ich drehe den Schlüssel und öffne die Tür einen Spalt.
Es ist Julianne. »Was ist los?«
»Nichts.«
»Ich habe
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