Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
mir?«
»Nichts für ungut, Professor, aber vor hundert Jahren brauchten die Leute noch keine Seelenklempner, um klarzukommen. Sie brauchten keine Therapie, keine Beruhigungsmittel, keine Selbsthilfebücher oder das beschissene Secret. Sie haben einfach ihr Leben gelebt.«
»Vor hundert Jahren sind die Leute nur fünfundvierzig geworden.«
»Was wollen Sie denn damit sagen? Dass uns ein längeres Leben unglücklich macht?«
»Es gibt uns mehr Zeit, unglücklich zu sein. Unsere Erwartungen haben sich verändert. Überleben reicht nicht mehr. Wir wollen Erfüllung.«
Sie antwortet nicht, was jedoch kein Zeichen der Zustimmung ist. Ihr ganzes Gebaren deutet vielmehr auf irgendeine Episode in der Vergangenheit hin, eine Familiengeschichte oder einen Besuch bei einem Psychologen oder Psychiater.
»Liegt es daran, dass Sie lesbisch sind?«, frage ich.
»Haben Sie ein Problem damit?«
»Nein.«
»Gertrude Stein hat Hemingway einmal erklärt, er hätte Probleme, Homosexualität zu akzeptieren, weil der homosexuelle Akt von Männern hässlich und abstoßend sei, während bei Frauen das Gegenteil zuträfe.«
»Ich versuche, die Menschen nicht nach ihrer sexuellen Neigung zu beurteilen.«
»Aber Sie beurteilen sie schon, jeden Tag in Ihrem Behandlungszimmer.«
»Ich habe keine klinische Praxis mehr, aber als ich noch eine hatte, habe ich versucht, Menschen zu helfen.«
»Hatten Sie je einen Patienten, der seine Homosexualität nicht akzeptiert hat?«
»Ja.«
»Haben Sie versucht, ihn in Ordnung zu bringen?«
»Es gab nichts in Ordnung zu bringen. Ich kann die Sexualität eines Menschen nicht verändern. Ich kann ihm helfen, sich selber anzunehmen und mit seinem eigenen Sosein zu leben.«
DI Cray trocknet sich die Hände ab, nimmt wieder Platz, greift nach ihren Zigaretten und zündet sich eine an.
»Haben Sie das psychologische Profil fertig?«
Ich nicke. Reifen auf knirschendem Kies kündigen einen Besucher an. Safari Roy ist gekommen, um sie in die Trinity Road zu fahren.
»Ich habe heute Morgen eine Einsatzbesprechung. Sie sollten mitkommen.«
Roy klopft, betritt das Haus und nickt uns zu.
»Fertig, Boss?«
»Ja. Der Prof kommt mit uns.«
Roy sieht mich an. »Ich hab immer ein Plätzchen frei.«
Im Einsatzraum geht es geschäftiger und lauter zu als beim letzten Mal. Mehr Detectives und ziviles Hilfspersonal sind versammelt, die die Daten beider Verbrechen erfassen und abgleichen. Das Ganze ist jetzt offiziell eine Mordermittlung mit einer Sonderkommission.
Sylvia Furness hat ihre eigene Tafel neben der von Christine Wheeler bekommen. Dicke schwarze Linien verbinden Verwandte, Kollegen und gemeinsame Freunde.
Die Sonderkommission hat sich in zwei Teams aufgeteilt. Ein Team hat bereits Hunderte von Stunden damit zugebracht, jede Person aufzuspüren, die sich in Leigh Woods aufgehalten hat, Fahrzeughalter ausfindig zu machen, Alibis zu überprüfen und die Aufnahmen der Überwachungskameras zu studieren.
Außerdem hat man sich auf Christine Wheelers Schulden und ihre Geschäfte mit einem lokalen Kredithai namens Tony Naughton konzentriert, dessen Name in ihren Telefonunterlagen aufgetaucht ist. Naughton wurde befragt, hat jedoch für Freitag, den 5. Oktober, ein Alibi. Ein halbes Dutzend Gäste bestätigt, dass er sich vom Nachmittag bis zur Sperrstunde in einem Pub aufgehalten hat. Es ist dasselbe halbe Dutzend, das ihm jedes Mal ein Alibi liefert, wenn er von der Polizei vernommen wird.
Ich höre, wie Veronica Cray alle Anwesenden auf den Stand der vergangenen vierundzwanzig Stunden bringt.
»Der Mörder von Sylvia Furness wusste von den Handschellen, das heißt, wir könnten es mit einem Exfreund, Liebhaber oder sonst jemandem zu tun haben, der Zutritt zu ihrer Wohnung hatte. Ein Vertreter, ein Fensterputzer, ein Freund …«
»Was ist mit dem Ehemann?«, fragt Monk.
»Er war zusammen mit seiner sechsundzwanzigjährigen Sekretärin in Genf.«
»Er hätte jemanden anheuern können.«
Sie nickt. »Wir schauen uns seine Telefonunterlagen und seine E-Mails an.«
Sie verteilt Aufgaben und wirft mir einen kurzen Blick zu. »Professor O’Loughlin hat ein psychologisches Profil erstellt. Ich übergebe jetzt an ihn.«
Meine Notizen stehen auf einem Blatt Papier in meiner Jackentasche. Ich ziehe es hervor und blicke darauf wie auf einen Spickzettel. Ich hebe bewusst die Füße an, um nicht zu schlurfen, als ich vor die Versammlung trete. Das ist einer der Tricks, die ich lernen musste, seit
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