Deine Juliet
knauserig. Wollen Sie ein Gedicht von ihm lesen, das er schrieb, als ein gefallenes Mädchen ihm ihre Gunst in Rechnung stellte? Das arme Kind. Ich schreibe es für Sie ab.
Diese abgenutzte Hure will zehntausend Sesterzen von mir haben?
Das Mädchen mit der garst’gen Nase?
Ihr, Verwandte des Mädchens, die sie hüten,
ruft die Freunde und Ärzte zusammen; das Mädchen ist des Wahnsinns.
Bildet sich ein, sie sei hübsch.
Das sollen Liebesbeweise sein? Ich habe zu meinem Freund Eben gesagt, etwas so Gehässiges sei mir noch nie untergekommen. Er sagte, ich hätte nicht die richtigen Dichter gelesen. Er nahm mich mit zu sich nach Hause und lieh mir ein Büchlein. Es waren die Gedichte von Wilfred Owen. Er war Hauptmann im Ersten Weltkrieg, und er wusste Bescheid und nannte die Dinge beim richtigen Namen. Auch ich bin in Pashendale gewesen, und ich wusste, was er wusste, aber ich könnte es niemals in Worte fassen.
Nun, danach dachte ich, dass Dichtung doch etwas für sich haben könnte. Ich ging zu den Versammlungen, und ich bin froh darüber, denn sonst wäre ich nie dazu gekommen, die Werke von William Wordsworth zu lesen – er wäre mir unbekannt geblieben. Ich habe viele Gedichte von ihm auswendig gelernt.
Ja, und ich habe das Herz der Witwe Hubert erobert – meiner Nancy. Ich überredete sie eines Abends zu einem Spaziergang entlang den Klippen, und ich sagte: «Schau nur, Nancy. Der Himmel schirmt die See mit seinem Kleid: Doch horch! Dasmächtige Geschöpf, es wacht.» Sie ließ sich von mir küssen. Sie ist jetzt meine Frau.
Aufrichtig,
Ihr Clovis Fossey
PS: Mrs. Maugery hat mir vergangene Woche ein Buch geliehen. Es heißt
Das Oxford-Buch moderner Dichtung, 1892 – 1935
. Sie haben einen Mann namens Yeats die Auswahl treffen lassen. Das hätten sie nicht tun sollen. Wer ist das – und was versteht er von Dichtung?
Ich habe das ganze Buch nach Gedichten von Wilfred Owen oder Siegfried Sassoon durchsucht. Es gab keins – nicht ein einziges. Und wissen Sie, warum? Weil dieser Mr. Yeats sagte – er sagte doch glatt: «Ich habe mit Absicht KEINE Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg aufgenommen. Ich hege eine Abneigung gegen sie. Passives Leid ist kein Thema für Poesie.»
Passives Leid? Passives Leid! Darüber habe ich mich aufgeregt! Was fehlt dem Mann? Hauptmann Owen hat geschrieben:
«Welch Grabgeläute denen, die wie Schlachtvieh sterben? Die ungeheure Wut nur der Kanonen.»
Was daran passiv ist, möchte ich wissen. Genauso sterben sie. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und ich sage, zum Teufel mit Mr. Yeats.
Ihr Freund
Clovis Fossey
Eben Ramsay an Juliet
10. März 1946
Sehr geehrte Miss Ashton,
haben Sie Dank für Ihren Brief und Ihre freundlichen Fragen nach meinem Enkelsohn Eli. Er ist das Kind meiner Tochter Jane. Jane und ihr Neugeborenes starben im Krankenhaus an dem Tag, als die Deutschen uns bombardierten, am 28. Juni 1940. Elis Vater ist 1942 in Nordafrika gefallen, deshalb ist Eli jetzt in meiner Obhut.
Eli hat Guernsey am 20. Juni verlassen, zusammen mit Tausenden von kleinen und größeren Kindern, die nach England evakuiert wurden. Wir wussten, dass die Deutschen kommen würden, und Jane fürchtete hier um seine Sicherheit. Der Arzt wollte Jane nicht mit ihnen fahren lassen, weil die Geburt des Babys kurz bevorstand.
Wir hatten sechs Monate keine Nachricht von den Kindern. Dann erhielt ich eine Postkarte vom Roten Kreuz. Darauf stand, dass es Eli gutginge, aber nichts über seinen Aufenthalt – wir beteten, dass unsere Kinder nicht in einer Großstadt waren. Es verging viel Zeit, bis ich ihm eine Antwortkarte schicken konnte, aber ich war im Zwiespalt, ob das überhaupt richtig war. Ich hatte Angst, ihm mitzuteilen, dass seine Mutter und das Baby tot waren. Mir graute vor dem Gedanken, dass mein Junge diese kalten Worte auf einer Postkarte lesen musste. Doch ich musste es tun. Und dann noch einmal, nachdem ich die Nachricht vom Tod seines Vaters erhielt.
Eli kam erst zurück, als der Krieg vorüber war – und man hat tatsächlich alle Kinder zusammen nach Hause geschickt. War das ein Tag! Noch köstlicher als der, an dem die Engländer kamen, um Guernsey zu befreien. Eli war der erste Junge auf der Landungsbrücke – seine Beine waren in den fünf Jahren sehr lang geworden –, und ich glaube, ich hätte nicht aufhören können,ihn an mich zu drücken, wenn Isola mich nicht ein wenig geschubst hätte, damit sie ihn auch
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