Deine Juliet
stehlen. Ich zeige nicht mit dem Finger auf sie, denn einige von uns machten es genauso. Hunger lässt einen verzweifeln, wenn man jeden Morgen damit aufwacht.
Mein Enkelsohn Eli wurde mit sieben nach England evakuiert. Er ist wieder zu Hause – zwölf Jahre alt und groß –, aber ich werde es den Deutschen nie verzeihen, dass sie mich darum gebracht haben, ihn heranwachsen zu sehen.
Ich muss jetzt meine Kuh melken, aber wenn Sie möchten, schreibe ich Ihnen wieder.
Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit,
Eben Ramsey
Miss Adelaide Addison an Juliet
1. März 1946
Sehr geehrte Miss Ashton,
bitte verzeihen Sie die Vermessenheit einer Ihnen unbekannten Person, Ihnen einen Brief zu schreiben. Doch mir ist eine unumstößliche Pflicht auferlegt. Wenn ich Dawsey Adams recht verstanden habe, gedenken Sie, einen ausführlichen Artikel über den Wert des Lesens für die Literaturbeilage der
Times
zu schreiben, und beabsichtigen, den Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf darin vorzustellen.
Dass ich nicht lache.
Sie werden es sich möglicherweise anders überlegen, wenn Sie erfahren, dass die Gründerin Elizabeth McKenna nicht einmal eine Einheimische ist. Trotz ihres feinen Getues ist sie nur eine emporgekommene Bedienstete aus dem Londoner Haushalt von Sir Ambrose Ivers von der Royal Academy. Gewiss ist er Ihnen bekannt. Er ist ein Porträtmaler von einigem Ruf; allerdings habe ich nie verstanden, warum. Sein Bildnis der Gräfin Lambeth als pferdepeitschende Boadicea war unverzeihlich. Wie dem auch sei, Elizabeth McKenna ist die Tochter seiner Haushälterin, ich bitte Sie.
Während die Mutter Staub wischte, ließ Sir Ambrose das Kind in seinem Studierzimmer stöbern. Und er ließ sie die Schule länger besuchen, als es für eine von ihrem Stand geboten gewesen wäre. Die Mutter starb, als Elizabeth vierzehn war. Hat Sir Ambrose sie in eine Einrichtung geschickt, um sie einen ihr gemäßen Beruf lernen zu lassen? Nein. Er behielt sie bei sich zu Hause in Chelsea. Er schlug sie für ein Stipendium an der Slade-Kunstakademie vor.
Bewahre, ich behaupte nicht, dass Sir Ambrose der Vater des Mädchens war – dafür kennen wir seine Neigungen zu gut –, aber er war derart in sie vernarrt, dass sie dadurch in ihrem unausrottbaren Laster bestärkt wurde: Mangel an Demut. Der Verfall der Sitten ist das Kreuz unserer Zeit, und nirgends tritt dieser bedauerliche Niedergang deutlicher zutage als bei Elizabeth McKenna.
Sir Ambrose besaß ein Haus auf Guernsey – auf den Klippen nahe Petit Point. Er, seine Haushälterin und das Mädchen verbrachten die Sommer dort, als sie ein Kind war. Elizabeth war ein wildes Ding – sie stromerte ungewaschen und ungekämmt über die Insel, sogar am Sonntag. Ohne häusliche Pflichten, ohne Handschuhe, ohne Strümpfe, ohne Schuhe. Sie fuhr mit rauen Männern auf Fischerbooten hinaus. Sie beobachtete anständige Leute durch ihr Fernrohr. Eine Schande.
Als offensichtlich war, dass es Ernst werden würde mit dem Krieg, schickte Sir Ambrose Elizabeth nach Guernsey, damit sie sein Haus schloss. Elizabeth trug in diesem Fall die Hauptlast seiner Unachtsamkeit, denn sie war noch damit beschäftigt, die Blendläden zu schließen, da standen auch schon die deutschen Truppen vor der Tür. Immerhin stand es ihr frei zu bleiben, und wie bestimmte nachfolgende Ereignisse beweisen (die zu erwähnen ich mich nicht herablassen werde), ist sie nicht die selbstlose Heldin, die manche Leute in ihr zu sehen scheinen.
Darüber hinaus ist der sogenannte Buchclub ein Skandal. Diejenigen hier auf Guernsey, die wahrhaft kultiviert und wohlerzogen sind, nehmen an dieser Scharade nicht teil (auch nicht, wenn sie eingeladen sind). Dem Club gehören nur zwei respektable Personen an – Eben Ramsey und Amelia Maugery. Die übrigen Mitglieder: ein Lumpensammler, ein heruntergekommener, trunksüchtiger Nervenarzt, ein stotternder Schweinehirt, ein Lakai, der sich als Lord aufspielt, und Isola Pribby, eine praktizierende Hexe, die, wie sie mir selbst anvertraut hat, Zaubertränke braut und verkauft. Sie haben unterwegs noch etliche andere Leute dieser Art aufgelesen, und man kann sich ihre «literarischen Abende» lebhaft vorstellen.
Sie dürfen nicht über diese Leute und ihre Bücher schreiben – Gott weiß, was sie für lesenswert erachtet haben!
In christlicher Bestürzung und Besorgnis,
Ihre Adelaide Addison (Miss)
Mark an Juliet
2. März 1946
Liebe
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