Deine Juliet
Guernsey, und gewiss keine aufregenden. Viele von uns waren erschöpft, schmuddelig, verängstigt, zerlumpt, barfuß und schmutzig – wir waren unterjocht und sahen auch so aus. Wir hatten weder Kraft, Zeit noch Geld für Vergnügungen übrig. Guernseyer Männer besaßen keinen Zauber – die deutschen Soldaten hingegen schon. Einem Freund von mir zufolge waren sie groß, blond, stattlich und gebräunt – wie Götter. Sie veranstalteten luxuriöse Feste, waren fröhliche, beschwingte Gesellschafter, besaßen Autos, hatten Geld und konnten die ganze Nacht durchtanzen.
Einige von den Mädchen, die mit Soldaten gingen, schenkten die Zigaretten ihren Vätern und das Brot ihren Familien. Sie kamen von einem Fest, die Handtaschen voll mit Brötchen, Gebäck, Obst, Fleischklößen und Gelee nach Hause, und damit hatte ihre Familie am nächsten Tag eine vollständige Mahlzeit.
Ich denke, für manche Inselbewohner war die Langeweile jener Jahre kein Grund, sich mit dem Feind anzufreunden. Langeweile ist aber ein kolossaler Grund, und die Aussicht auf Vergnügen besitzt eine kolossale Anziehungskraft – insbesondere, wenn man jung ist.
Viele Leute wollten mit den Deutschen nichts zu tun haben – wenn man guten Morgen sagte, machte man sich ihrer Meinung nach mit dem Feind gemein. Aber so, wie die Umstände waren, konnte ich das nicht auf Hauptmann Christian Hellmannanwenden, der Arzt bei der Besatzungsmacht und mein guter Freund war.
Ende 1941 gab es auf der Insel kein Salz mehr, und aus Frankreich kam keins zu uns herüber. Wurzelgemüse und Suppen schmecken schal ohne Salz, und da kamen die Deutschen auf die Idee, es aus Meerwasser zu gewinnen. Sie schleppten es von der Bucht herbei und schütteten es in einen großen Tankwagen, den sie mitten in St. Peter Port aufgestellt hatten. Wir mussten in die Stadt kommen, unsere Eimer volllaufen lassen und wieder nach Hause tragen. Dann sollten wir das Wasser verdampfen lassen und den Satz auf dem Topfboden als Salz verwenden. Dieser Plan schlug fehl – es gab nicht genug Holz für ein Feuer, das hoch genug loderte, um das Wasser im Topf verdampfen zu lassen. Darauf beschlossen wir, unser Gemüse direkt im Meerwasser zu kochen.
Das ergab eine ganz gute Würze, aber viele ältere Leute konnten den weiten Weg in die Stadt nicht machen oder die schweren Eimer nicht nach Hause schleppen. Niemand besaß mehr viel Kraft für solche Tätigkeiten. Ich hinke leicht infolge eines schlechtgerichteten Beins, das hat mich zwar vor dem Militärdienst bewahrt, war aber nie so schlimm, dass es mich beeinträchtigt hätte. Ich war insgesamt recht rüstig, darum fing ich an, manche Cottages mit Wasser zu beliefern.
Ich tauschte einen überzähligen Spaten und etwas Bindfaden gegen Mrs. LePells alten Kinderwagen ein, und Mr. Soames schenkte mir zwei kleine Weinfässer aus Eiche, beide mit einem Zapfen. Ich habe die Oberseite der Fässer abgesägt und abnehmbare Deckel daraus gemacht, dann die Fässer in den Kinderwagen eingepasst – und so hatte ich ein Transportmittel. Mehrere Strände waren nicht vermint, da konnte man leicht die Felsen hinunterklettern, ein Fass mit Wasser füllen und es wieder nach oben wuchten.
Im November weht ein rauer Wind, und einmal waren meine Hände fast starr vor Kälte, nachdem ich mit dem ersten FassWasser von der Bucht nach oben geklettert war. Ich stand neben dem Kinderwagen und versuchte, meine Finger zu lockern, als Christian vorbeigefahren kam. Er hielt an, setzte zurück und fragte, ob ich Hilfe brauchte. Ich verneinte, aber er stieg trotzdem aus und half mir, das Fass in mein Wägelchen zu heben. Dann ging er wortlos mit mir die Klippe hinunter, um mir mit dem zweiten Fass zu helfen.
Ich hatte bis dahin nicht bemerkt, dass er eine steife Schulter und einen steifen Arm hatte. Diese Behinderung, mein Hinkefuß und das lose Geröll ließen uns auf dem Rückweg ausrutschen und gegen den Hang fallen, wobei uns das Fass entglitt. Es kullerte hinunter, zerschellte am Felsen, und wir wurden klatschnass. Gott weiß, warum uns das lustig vorkam. Wir ließen uns gegen die Felswand sacken und konnten nicht aufhören zu lachen. Dabei fielen mir Elias’ Essays aus der Tasche, und Christian hob das durchnässte Buch auf. «Ah, Charles Lamb», sagte er und gab es mir. «Ihm hätte ein bisschen Feuchtigkeit sicher nichts ausgemacht.» Er muss mir meine Überraschung angesehen haben, denn er fügte hinzu: «Zu Hause lese ich ihn oft. Ich beneide Sie um Ihre
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