Deine Juliet
der Hand und meinem «Vorfahren» denkbar ähnlich sehend, dessen Bildnis das Kaminsims über mir zierte.
Sie verbeugten sich vor mir und waren überaus höflich, was sie allerdings nicht daran hinderte, das Haus zu beschlagnahmen. Ich musste tags darauf in das Pförtnerhäuschen ziehen. Eben und Dawsey schlichen am Abend nach der Sperrstunde herüber und halfen mir, den größten Teil des Weins ins Cottage zu tragen, wo wir ihn wohlbedacht hinter dem Holzstoß, im Brunnen, im Rauchfang, unter einem Heuhaufen und über den Dachbalken versteckten. Doch trotz aller Flaschenschlepperei ging mir Anfang 1941 der Wein aus. Ein trauriger Tag, aber ich hatte wohlmeinende Freunde, die mich ablenkten – und dann, dann entdeckte ich Seneca.
Mit der Zeit liebte ich unsere Büchertreffen – sie halfen mir, die Besatzung erträglich zu machen. Manche von den Büchern hörten sich schön an, doch ich blieb Seneca treu. Ich hatte allmählich das Gefühl, er spreche zu mir – auf seine komische, bissige Art –, und zwar zu mir allein. Seine Briefe halfen mir, trotz allem, was später kommen sollte, am Leben zu bleiben.
Ich gehe immer noch zu allen Clubversammlungen. Die Leute haben Seneca bis oben hin satt und bitten mich, etwas anderes zu lesen. Aber das will ich nicht. Ich spiele auch in Stücken mit, die eine hiesige Theatergruppe aufführt – es ist wohl so, dass ichals Lord Tobias Gefallen an der Schauspielerei gefunden habe, und überdies bin ich groß und laut und bis in die letzte Reihe zu hören.
Ich bin froh, dass der Krieg vorüber ist und ich wieder John Booker bin.
Ihr ergebener
John Booker
Juliet an Sidney und Piers
31. März 1946
Lieber Sidney, lieber Piers,
kein Blut – nur verkrümmte Finger vom Abschreiben der beigefügten Briefe meiner neuen Freunde auf Guernsey. Ich hänge an diesen Briefen und finde den Gedanken unerträglich, die Originale ans Ende der Welt zu schicken, wo sie garantiert von wilden Hunden gefressen würden.
Ich wusste, dass die Deutschen die Kanalinseln besetzt hatten, habe mir aber während des Krieges kaum Gedanken darüber gemacht. Seither habe ich die
Times
und alles, dessen ich sonst noch in der Londoner Bibliothek habhaft werden konnte, nach Artikeln über die Besatzungszeit durchsucht. Ich muss auch noch einen guten Reiseführer für Guernsey finden – einen mit Schilderungen, nicht nur mit Fahrplänen und Hotelempfehlungen –, um einen anschaulichen Eindruck von der Insel zu gewinnen.
Ganz abgesehen von meinem Interesse für ihr Interesse am Lesen habe ich mich in zwei Männer verliebt: Eben Ramsey und Dawsey Adams. Clovis Fossey und John Booker gefallen mir. Ich würde mich liebend gerne von Amelia Maugery adoptierenlassen und meinerseits mit Freuden Isola Pribby adoptieren. Ich überlasse es Eurem Urteil, was ich für Adelaide Addison (Miss) empfinde, wenn Ihr ihre Briefe gelesen habt. Es ist tatsächlich so, dass ich zurzeit mehr auf Guernsey als in London lebe – während ich vorgebe zu arbeiten, lausche ich mit einem Ohr darauf, dass die Post in den Briefkasten fällt, und wenn ich es höre, poltere ich die Treppe hinunter, gespannt auf den nächsten Teil der Geschichte. So muss es den Menschen ergangen sein, die den Eingang des Verlags umlagert haben, um die neueste Lieferung von
David Copperfield
frisch aus der Druckerpresse zu ergattern.
Ich weiß, dass die Briefe Euch gefallen werden – aber fändet Ihr es auch interessant, wenn mehr daraus würde? Für mich sind diese Leute und ihre Erlebnisse während des Krieges faszinierend und rührend. Findet Ihr das nicht auch? Meint Ihr, daraus könnte ein Buch werden? Haltet Euch nicht zurück – ich möchte die unverblümte Meinung von Euch beiden. Und keine Sorge – ich werde Euch weiterhin Abschriften der Briefe schicken, auch wenn Ihr nicht wollt, dass ich ein Buch über Guernsey schreibe. Ich bin (meistens) über kleinliche Rachegefühle erhaben.
Nachdem ich meine Finger Eurer Unterhaltung geopfert habe, solltet Ihr mir dafür eins von Piers’ neuesten Werken schicken. Ich bin so froh, dass Du wieder schreibst, mein Lieber.
Liebste Grüße an Euch beide,
Eure Juliet
Dawsey Adams an Juliet
2. April 1946
Liebe Juliet,
sich zu vergnügen ist in Adelaide Addisons Bibel die größte Sünde (dicht gefolgt von Mangel an Demut), und es überrascht mich nicht, dass sie Ihnen von Krautschlampen geschrieben hat. Adelaide lebt von ihrem Zorn.
Es gab nur noch wenige ansehnliche Männer auf
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