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Deine Juliet

Deine Juliet

Titel: Deine Juliet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Mary Ann / Barrows Shaffer
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stark – immerhin hat er mein gesamtes Gepäck, mich, Amelia und Kit ohne Mühe in seinen Wagen gehoben.
    Ich schüttelte ihm die Hand (ob er dabei etwas sagte, weiß ich nicht mehr), und dann trat er beiseite und machte Amelia Platz. Sie gehört zu den Frauen, die mit sechzig schöner sind, als sie mit zwanzig je hätten sein können (ach, ich hoffe, eines Tages sagt das jemand auch über mich!). Klein, ein schmal geschnittenes Gesicht mit einem liebreizenden Lächeln und einem grauen Zopfkranz. Sie drückte mir fest die Hand und sagte: «Juliet, wie schön, dass Sie endlich da sind. Sehen wir zu, dass wir Ihr Gepäckauftreiben und heimkommen.» Es klang wunderbar, ganz so, als wäre es tatsächlich mein Heim.
    Als wir am Anleger standen, streifte wiederholt ein Lichtstrahl meine Augen und wanderte weiter über den Kai. Isola schnaubte verächtlich und erklärte, das sei Adelaide Addison, die von ihrem Fenster aus mit dem Opernglas jede unserer Bewegungen verfolge. Mit einer energischen Handbewegung brachte sie den Strahl zum Erlöschen.
    Während wir noch darüber lachten, sammelte Dawsey meine Gepäckstücke ein, achtete darauf, dass Kit nicht ins Wasser fiel, und machte sich insgesamt nützlich, wo er nur konnte. Dies ist, wie mir in dem Moment klar wurde, ein Wesenszug von ihm – ein Wesenszug, auf den sich alle anderen bedenkenlos verlassen.
    Wir vier – Amelia, Kit, Dawsey und ich – fuhren in Dawseys Wagen zu Amelias Hof, der Rest ging zu Fuß. Es war kein weiter Weg, aber wir fuhren durch ganz unterschiedliche Landschaften: von St.   Peter Port aufs Land, durch wellige Weiden, die unvermittelt an steilen Klippen enden, und überall riecht es feucht und salzig nach Meer. Während wir fuhren, ging die Sonne unter, und der Abenddunst stieg auf. Du weißt ja, wie der Nebel alle Geräusche verstärkt. Jedes Zwitschern klang gewichtig und symbolträchtig. Über der Steilküste ballten sich Wolken zusammen, und als wir beim Herrenhaus ankamen, bedeckte eine graue Hülle die Felder, ich sah geisterhafte Umrisse, wahrscheinlich die Betonbunker, die von den Arbeitern der Organisation Todt errichtet wurden.
    Kit saß neben mir im Wagen und warf mir häufig verstohlene Blicke zu. Ich war nicht so töricht, das Wort an sie zu richten, aber ich habe meinen berühmten Daumen-Trick angewandt – Du weißt schon, bei dem ich es aussehen lasse, als wäre mein Daumen abgetrennt.
    Ich wiederholte ihn mehrmals, sehr beiläufig, und sie ließ mich nicht aus den Augen. Sie war ganz bei der Sache und völliggebannt, aber nicht leichtgläubig genug, um loszukichern. Schließlich sagte sie nur: «Zeig mir, wie du das machst.»
    Beim Abendessen setzte sie sich mir gegenüber und verweigerte mit ausgestrecktem Arm ihren Spinat, die Hand erhoben wie ein Schutzmann. «Für mich nicht», sagte sie, und ich für meinen Teil hätte nie gewagt, ihr zu widersprechen. Sie zog ihren Stuhl nahe an den von Dawsey heran und ließ beim Essen einen Ellenbogen auf seinem Arm ruhen, nagelte ihn förmlich fest. Ihm machte es offenbar nichts aus, obwohl es ihn beim Zerschneiden des Huhns ziemlich behinderte. Nach dem Essen kletterte sie sofort auf seinen Schoß, der offenbar ihr angestammter Thron ist. Dawsey schien der Unterhaltung durchaus zu folgen, aber mir ist nicht entgangen, dass er aus seiner Serviette Kaninchenohren herauswachsen ließ, während wir über die Lebensmittelknappheit in der Besatzungszeit sprachen. Wusstest Du, dass die Inselbewohner Vogelfutter zu Mehl verarbeitet haben, bis es ihnen ausging?
    Ich muss wohl einen Test bestanden haben, von dem ich gar nichts ahnte, denn Kit wollte von mir zu Bett gebracht werden. Ich sollte ihr eine Geschichte von einem Frettchen erzählen. Sie sagte: «Ich mag Schädlinge gern, und du? Würdest du eine Ratte auf die Lippen küssen?» Ich sagte: «Niemals», und das nahm sie offenbar für mich ein – ich war zwar zweifellos ein Feigling, aber jedenfalls keine Heuchlerin. Ich erzählte ihr eine Geschichte, und sie hielt mir, den Kopf eine Idee zur Seite gewandt, die Wange zum Kuss hin.
    Was für ein langer Brief – und er beinhaltet nur die ersten vier von zwanzig Stunden. Mit den restlichen sechzehn wirst Du Dich gedulden müssen.
     
    Liebste Grüße,
    Juliet

Juliet an Sophie
    24.   Mai 1946
    Liebste Sophie,
    ja, ich bin hier. Mark hat alles getan, um mich aufzuhalten, aber ich bin stur geblieben, bis zum bitteren Ende. Ich habe Starrköpfigkeit ja immer für eine meiner

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