Deine Juliet
gewesen. Cee Cee hat zu Recht in höchsten Tönen davon geschwärmt, wie es ist, mit dem Segelschiff in St. Peter Port einzulaufen. Der Hafen, hinter dem sich die Häuser stracks und steil dem Himmel entgegenrecken, ist gewiss einer der schönsten auf Erden. Die Schaufenster in der High Street und in der Pollet Street sind blitzblank und füllen sich allmählich mit neuer Ware. Aber auch, wenn St. Peter Port einen trostlosen Anblick bietet – so viele Gebäude müssen erst wieder instand gesetzt werden –, es verströmt trotzdem nicht die gleiche tödliche Müdigkeit wie unser armes London. Es muss an dem Licht liegen, das alles in strahlende Helligkeit taucht, an der reinen, klaren Luft und den Blumen, die überall sprießen – auf Feldern und Rainen, in Ritzen und Spalten und zwischen Pflastersteinen.
Man muss wahrhaftig so klein sein wie Kit, um diese Welt richtig zu erfassen. Sie ist großartig darin, mich auf Dinge hinzuweisen, die ich sonst übersehen würde – Schmetterlinge, Spinnen, Blumen, die winzig klein nah am Boden wachsen –, man kann sie kaum entdecken, wenn man vor einer flammenden Wand aus Fuchsien und Bougainvilleen steht. Gestern fand ich Kit und Dawsey zusammengekauert im Unterholz neben dem Tor, mucksmäuschenstill wie ein Diebespärchen. Allerdings stahlen sie nichts, sie beobachteten eine Amsel, die einen Wurm aus dem Boden zog. Der Wurm wehrte sich nach Kräften, und wir drei saßen schweigend da, bis die Amsel ihn schließlich durch die Speiseröhre hinunterbefördert hatte. Ich habe noch nie den ganzen Vorgang von A bis Z mit angesehen. Es ist ekelerregend.
Kit trägt manchmal, wenn wir in den Ort gehen, eine kleine Schachtel bei sich – einen Pappkarton, fest mit Schnur umwickelt und mit einem Griff aus rotem Garn. Selbst beim Tee hat sie sie auf dem Schoß und ist sehr darum besorgt. Die Schachtelhat keine Luftlöcher, demnach kann sie kein Frettchen beherbergen. Oder aber, o mein Gott, am Ende ist es noch ein totes Frettchen. Ich wüsste zu gern, was darin ist, kann aber natürlich nicht danach fragen.
Es gefällt mir ausgezeichnet hier, und ich habe mich inzwischen so weit eingelebt, dass ich an die Arbeit gehen kann. Und das werde ich, sobald ich heute Nachmittag vom Fischen mit Eben und Eli zurück bin.
Liebste Grüße an Dich und Piers,
Juliet
Juliet an Sidney
30. Mai 1946
Lieber Sidney,
weißt Du noch, wie Du mich zu fünfzehn Sitzungen von «Sidney Starks Unterweisungen in perfektem Gedächtnistraining» gezwungen hast? Mit dem Argument, dass Schriftsteller, die bei jedem Gespräch ständig irgendwas in ihr Notizbuch kritzeln, ungehobelt, faul und unfähig wirkten und ich Dir in dieser Hinsicht niemals Schande machen sollte. Du warst unerträglich arrogant, und ich habe Dich von Herzen verabscheut, aber ich habe meine Lektion gelernt – und hier sind die Früchte Deiner harten Arbeit:
Gestern Abend habe ich erstmals an einer Versammlung des Clubs der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf teilgenommen. Sie fand im Wohnzimmer von Clovis und Nancy Fossey statt (und zeitweilig in der Küche). Der Redner des Abends war ein neues Mitglied, Jonas Skeeter, der über die
Selbstbetrachtungen
von Mark Aurel sprechen sollte.
Mr. Skeeter schritt nach vorn, bedachte uns alle mit einem finsteren Blick und verkündete, er wäre lieber nicht hier und hätte dieses alberne Buch von Mark Aurel nur deshalb gelesen, weil sein
bis dahin
ältester und bester Freund Woodrow Cutter ihm praktisch keine andere Wahl gelassen habe, wenn er nicht als Esel dastehen wolle. Alle drehten sich zu Woodrow um, der wie vom Schlag getroffen mit weit offenem Mund dasaß.
Jonas Skeeter fuhr fort: «Ich war gerade dabei, den Kompost aufzuschichten, da kam Woodrow quer über das Feld zu mir. Er hielt das kleine Buch da in Händen und sagte, er sei gerade fertig damit und ich sollte es doch auch unbedingt lesen – es wäre sehr
tiefgründig
.
‹Woodrow, ich hab keine Zeit für irgendwas
Tiefgründiges
›, sagte ich.
Darauf sagte er: ‹Dann nimm dir die Zeit, Jonas. Wenn du’s gelesen hast, können wir uns bei Crazy Ida mal über was Anständiges unterhalten. Wir hätten bestimmt mehr Spaß bei unserem Bier.›
Na, ich muss schon sagen, das tat weh, alles andere wäre gelogen. Wir sind von Kindesbeinen an gute Freunde gewesen, aber in letzter Zeit hat er sich offenbar für was Besseres gehalten, nur weil er Bücher für euren komischen Club liest und ich
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