Deine Juliet
unliebenswürdigsten Eigenschaften gehalten, aber in der vergangenen Woche hat sie mir wirklich genützt.
Erst als das Boot ablegte und ich ihn am Anleger stehen sah, hochgewachsen und missmutig – und aus irgendeinem Grund gewillt,
mich
zu heiraten –, fragte ich mich, ob er am Ende nicht recht hat. Vielleicht bin ich wirklich eine Närrin. Ich weiß von drei Frauen, die ganz versessen auf ihn sind – eine von ihnen wird ihn im Handumdrehen aufgabeln, und ich werde meinen Lebensabend in einem schmutzigen Kämmerlein fristen und zusehen, wie mir die Zähne ausfallen. Oh, ich sehe alles deutlich vor mir: Niemand wird meine Bücher kaufen, ich werde Sidney mit zerfledderten, unleserlichen Manuskripten plagen, und er wird aus Mitleid vorgeben, sie zu veröffentlichen. Tatterig und vor mich hin brabbelnd werde ich durch die Straßen ziehen mit meinen armseligen Steckrüben im Einkaufsnetz und Zeitungspapier in den Schuhen. Du wirst mir zu Weihnachten liebe Kärtchen schreiben (oder?), und ich werde vor Fremden prahlen, dass ich mich einst um ein Haar mit Markham Reynolds, dem Verlagsmagnaten, verlobt hätte. Sie werden den Kopf schütteln – das arme alte Ding, vollkommen übergeschnappt, aber harmlos.
O Gott. Dieser Weg führt in den Wahn.
Guernsey ist wunderschön, und meine neuen Freunde haben mich so großherzig, so warm in Empfang genommen, dass ich meine Entscheidung herzukommen nie bereut habe – bis ich eben anfing, über meine Zähne nachzudenken. Ich werde jetzteinfach nicht mehr daran denken, hinaus auf die Blumenwiese gehen und zu den Klippen laufen, so schnell ich kann. Dann lasse ich mich fallen und gucke in den Himmel, der heute Nachmittag schimmert wie eine Perle, atme den warmen Geruch von Gras ein und tue, als gäbe es auf der Welt keinen Markham V. Reynolds.
Gerade bin ich zurückgekommen. Es ist viele Stunden später – die untergehende Sonne hat die Wolken golden gerahmt, und am Fuß der Klippen tost die See. Mark Reynolds? Wer war das nochmal?
Wie immer liebste Grüße,
Juliet
Juliet an Sidney
27. Mai 1946
Lieber Sidney,
Elizabeths Cottage wurde offenbar für einen erlauchten Gast gebaut, denn es bietet viel Platz. Unten befinden sich ein geräumiges Wohnzimmer, eine Vorratskammer, ein Bad und eine riesengroße Küche. In der oberen Etage gibt es drei Schlafzimmer und ein weiteres Bad. Und das Beste: Überall sind Fenster, sodass die Meeresbrise in jeden Raum wehen kann.
Ich habe einen Tisch zum Schreiben unter das größte Fenster in meinem Wohnzimmer geschoben. Der einzige Nachteil dieser Anordnung besteht darin, dass ich ständig in Versuchung bin, hinauszugehen und zu den Klippen zu laufen. Das Meer und die Wolken sehen alle fünf Minuten anders aus, und ich fürchte, etwas zu verpassen, wenn ich im Haus bleibe. Als ich heute Morgen aufstand, glitzerte die Sonne auf dem Meer wietausend Goldmünzen – und nun scheint es von zitronengelbem Musselin bedeckt zu sein. Schriftsteller sollten weit landeinwärts oder neben der städtischen Müllhalde wohnen, wenn sie je etwas schaffen wollen. Oder vielleicht müssten sie willensstärker sein, als ich es bin.
Hätte ich irgendeine Ermunterung gebraucht, um mich für Elizabeth zu interessieren – was nicht der Fall ist –, ihr Haus und ihre Sachen hätten dafür gesorgt. Als die Deutschen kamen und das Haus von Sir Ambrose beschlagnahmten, gaben sie ihr ganze sechs Stunden, um ihr Hab und Gut in das Cottage zu schaffen. Isola sagte, Elizabeth habe nur einige Töpfe und Pfannen, etwas Besteck und Alltagsgeschirr mitgenommen (das gute Silber und Porzellan, die Kristallgläser und den Wein behielten die Deutschen für sich), dazu ihre Malutensilien, ein altes Aufziehgrammophon, einige Schallplatten und im Übrigen ganze Arme voll Bücher. So viele Bücher, Sidney, dass ich noch nicht die Zeit gefunden habe, sie mir genauer anzusehen – sie füllen alle Regale im Wohnzimmer und machen sich auch im Küchenschrank breit, der eigentlich für Geschirr gedacht ist. Ein Stapel steht neben dem Sofa und dient als Abstelltisch – ist das nicht eine brillante Idee?
In jedem Winkel treffe ich auf Kleinigkeiten, die mir etwas über sie erzählen. Sie hatte ein Auge für schöne Dinge, Sidney, wie ich – auf allen Regalen liegen Muscheln, Vogelfedern, getrocknete Meeresgräser, Kieselsteine, Eierschalen und das Skelett von etwas, das eine Fledermaus gewesen sein könnte. Einfache Dinge, die auf dem Boden lagen und über die
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