Deine Juliet
nicht. Bis dahin hatte ich’s ihm durchgehen lassen – jedem Tierchen sein Pläsierchen, wie meine Mutter immer sagte. Aber das ging zu weit. Er hat mich beleidigt. Hat eindeutig durchblicken lassen, dass er seiner Meinung nach über mir steht.
‹Jonas›, sagte er, ‹Mark Aurel war ein römischer General – ein großer Krieger. In dem Buch hier steht, was er darüber dachte, da unten mitten unter den Quaden. Das waren Barbaren, die im Wald darauf warteten, alle Römer abzumurksen. Und obwohl ihm diese Quaden so verflucht zusetzten, hat Mark Aurel sich die Zeit genommen, seine Gedanken in dem kleinen Buch da aufzuschreiben. Ellenlange Gedanken, Jonas, von denen könnten wir uns gut eine Scheibe abschneiden.›
Also hab ich meinen Ärger hinuntergeschluckt und mir das blöde Buch geschnappt und bin heute gekommen, um vor euch allen zu sagen: ‹Schäm dich, Woodrow! Schande über dich, ein Buch höher zu schätzen als einen alten Freund!›
Aber, ich hab’s gelesen, und wollt ihr wissen, was ich davon halte? Mark Aurel war ein altes Waschweib – ständig in Sorge, ob er vielleicht einen Knoten im Hirn hat, ständig am Grübeln über alles, was er getan oder auch nicht getan hat. War er im Recht – oder im Unrecht? Irrte sich der Rest der Welt? Oder vielleicht doch er? Nein, alle anderen hatten unrecht, und das machte er ihnen klar. Ein oller Brüterich, das war er, der partout aus jedem Gedankenfitzelchen gleich eine ganze Predigt machen musste. Ich wette, der Kerl konnte nicht mal zum Pissen gehen –»
Jemand schnappte nach Luft: «Pissen! Er hat Pissen gesagt, in Anwesenheit der Damen!»
«Er soll sich entschuldigen!», rief eine andere Stimme.
«Er muss sich nicht entschuldigen. Er darf sagen, was er denkt, und so denkt er nun mal. Ob’s euch gefällt oder nicht!»
«Woodrow, wie kannst du deinen Freund so beleidigen?»
«Schäm dich, Woodrow!»
Als Woodrow sich erhob, wurde es still im Raum. Die beiden Männer kamen sich auf halbem Weg entgegen. Jonas umarmte Woodrow, und Woodrow umarmte Jonas, und die beiden zogen Arm in Arm davon zu Crazy Ida. Ich hoffe, das ist ein Pub und keine Frau.
Liebste Grüße,
Deine Juliet
PS: Dawsey war anscheinend das einzige Clubmitglied, das dem gestrigen Treffen etwas Komisches abgewinnen konnte. Er ist zu höflich, um laut loszulachen, aber ich sah, wie seine Schultern bebten. Die anderen waren, wie ich hörte, mit dem Abend vollaufzufrieden und fanden durchaus nichts Außergewöhnliches daran.
Nochmal liebste Grüße,
Juliet
Juliet an Sidney
31. Mai 1946
Lieber Sidney,
lies bitte den beigefügten Brief – er wurde heute Morgen unter meiner Tür durchgeschoben.
Liebe Miss Ashton,
Miss Pribby hat mir erzählt, dass Sie etwas über die Besatzung durch die deutsche Armee wissen wollen – darum schreibe ich Ihnen nun.
Ich bin nicht gerade groß für einen Mann, und Mutter sagt, mit mir wär auch sonst nie groß was los gewesen, aber das stimmt nicht. Ich habe ihr bloß nichts davon erzählt. Ich kann hervorragend pfeifen. Ich habe schon Wettbewerbe und Preise gewonnen damit. Und während der Besatzung habe ich diese Gabe genutzt, um den Feind zu schwächen.
Sie müssen sich das so vorstellen: Ich warte in mondlosen Nächten, bis Mutter eingeschlafen ist, und schleiche mich dann aus dem Haus, runter zum Bordell der Deutschen an der Saumarez Street. Dort verstecke ich mich in einer dunklen Ecke, bis ein Soldat nach seinem Schäferstündchen wieder herauskommt. Ich weiß nicht, ob Damen sich dessen bewusst sind, aber Männer sind nach solch einer Veranstaltung gewöhnlich nicht bei vollen Kräften. Doch wie dem auch sei, der Soldat nimmt alsoKurs auf sein Quartier und pfeift sich eins dabei. Ich setze mich gemächlich in Gang und pfeife die gleiche Melodie (allerdings sehr viel besser). Er hört auf zu pfeifen, ich jedoch pfeife weiter. Er hält einen Augenblick inne, wohl weil er merkt, dass das, was er für ein Echo gehalten hat, in Wirklichkeit eine weitere Person im Dunkeln ist, die ihm folgt. Aber wer? Er schaut sich um, ich drücke mich in einen Eingang. Er sieht niemanden – und geht weiter, nun ohne zu pfeifen. Ich gehe ihm nach und pfeife erneut. Er bleibt stehen – ich bleibe stehen. Er schaut sich um – wieder nichts. Er geht schneller, doch ich pfeife weiter und lasse ihn nun auch meine schweren Schritte hören. Der Soldat läuft schleunigst zu seinem Quartier. Ich kehre zum Bordell zurück und warte auf den nächsten
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