Deine Juliet
Deutschen, dem ich nachstellen kann. Ich glaube, dank mir hat manch ein Soldat am folgenden Tag seine Pflichten nicht wie gewohnt erfüllen können. Verstehen Sie?
Nun möchte ich noch etwas zu den Bordellen sagen. Ich glaube, die jungen Damen waren nicht aus freien Stücken dort. Sie wurden aus den besetzten Gebieten in Europa hergeschickt, genauso wie die Zwangsarbeiter für OT, die Organisation Todt. Es kann keine schöne Arbeit gewesen sein. Man muss den Soldaten zugutehalten, dass sie von den deutschen Behörden verlangten, den Frauen eine Extraration Lebensmittel zuzuteilen, so wie den Inselbewohnern, die zu besonders harter Arbeit herangezogen wurden. Außerdem habe ich gesehen, wie einige ebendieser Damen ihre Ration mit den O T-Arbeitern teilten, die manchmal abends ihre Lager verlassen durften, um etwas zu essen zu ergattern.
Die Schwester meiner Mutter lebt auf Jersey. Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, kann sie uns besuchen kommen – bedauerlicherweise. Wie von einer Frau ihrer Sorte nicht anders zu erwarten, erzählte sie eine hässliche Geschichte.
Nach dem Invasionstag beschlossen die Deutschen, ihre Bordelldamen nach Frankreich zurückzuschicken, und packten sieallesamt auf ein Schiff Richtung St. Malo. Nun sind die Gewässer hier sehr ungebärdig, launisch, aufgewühlt und tückisch. Das Schiff wurde auf die Felsen getrieben, und alle an Bord ertranken. Man konnte die armen toten Frauen sehen – ihr gelbes Haar (gebleichte Flittchen, so nannte meine Tante sie) trieb aufgelöst im Wasser, als sie hier an die Felsen gespült wurden. «Ist ihnen ganz recht geschehen, diesen Huren», sagte meine Tante – und sie und meine Mutter lachten.
Es war nicht zu ertragen! Ich sprang vom Stuhl auf und stieß absichtlich den Teetisch um, sodass er gegen sie fiel. Ich nannte sie gehässige alte Spinatwachteln.
Meine Tante sagt, sie wird nie wieder einen Fuß in unser Haus setzen, und meine Mutter hat seit jenem Tag nicht mehr mit mir gesprochen. Ich finde es himmlisch ruhig.
Ihr sehr ergebener
Henry A. Toussant
Juliet an Sidney
6. Juni 1946
Lieber Sidney,
ich konnte es kaum glauben, dass wirklich Du es warst, der da gestern Abend aus London anrief! Wie weise von Dir, mir nichts von Deinem Rückflug zu sagen; Du weißt, wie sehr Flugzeuge mich in Angst und Schrecken versetzen, selbst wenn sie keine Bomben abwerfen. Wie wunderbar, dass Du nicht länger fünf Ozeane weit weg bist, sondern gleich jenseits des Kanals. Kommst Du uns so bald wie möglich besuchen?
Isola ist besser als ein Treiber bei der Fuchsjagd. Sie hat schon sieben Leute angeschleppt, die mir ihre Geschichten von derBesatzung erzählt haben – und der Packen mit meinen Notizen wächst. Aber es sind vorerst wirklich nur Notizen. Noch weiß ich nicht, ob ein Buch daraus werden kann – oder, wenn ja, welche Form es haben soll.
Kit hat es sich zur Gewohnheit gemacht, den ein oder anderen Vormittag hier zuzubringen. Sie nimmt sich Steine oder Muscheln mit und sitzt still – nun ja, einigermaßen still – auf dem Boden und spielt mit ihnen, während ich arbeite. Wenn ich fertig bin, gehen wir mittags zum Picknick an den Strand. Ist es dafür zu neblig, spielen wir im Haus, entweder Friseuse – dabei bürsten wir einander die Haare, bis sie knistern – oder Tote Braut.
Tote Braut ist nicht so kompliziert wie das Leiterspiel, es ist eigentlich recht simpel. Die Braut hüllt sich in eine Spitzengardine und stopft sich in den Wäschekorb, wo sie wie tot daliegt, während der besorgte Bräutigam nach ihr sucht. Hat er sie schließlich in ihrem Wäschegrab entdeckt, bricht er in lautes Wehklagen aus. Dann, und wirklich erst dann, springt die Braut auf, ruft «Überraschung!» und drückt ihn ans Herz. Danach sind alle wieder froh und lächeln und küssen sich. Wenn Du mich fragst, ich sehe für diese Ehe keine große Zukunft.
Ich wusste ja, dass alle Kinder einen Hang zum Schaurigen haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie darin noch ermutigen soll. Ich traue mich nicht, Sophie zu fragen, ob Tote Braut nicht doch ein zu morbides Spiel für eine Vierjährige ist. Wenn sie ja sagt, müssen wir damit aufhören, und das will ich nicht. Ich liebe Tote Braut.
Es kommen so viele Fragen auf, wenn man seine Tage mit einem Kind verbringt. Ob beispielsweise, wenn man gern und oft schielt, die Augen irgendwann so stehen bleiben – oder ist das ein Gerücht? Meine Mutter sagte das immer, und ich habe es ihr damals geglaubt, aber Kit
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