Deine Juliet
eine Geschichte, die ihre Mutter zum Inhalt hat, gewiss von großem Wert – etwas, an das sie sich halten kann, wenn sie größer wird. Also, entweder Du lässt es ganz bleiben – oder Du lässt Dich ganz auf Elizabeth ein.
Denk genau darüber nach und sag mir dann, ob Du Dir Elizabeth als Zentrum Deines Buchs vorstellen kannst.
Dir und Kit liebste Grüße
von
Sidney
Juliet an Sidney
15. Juli 1946
Lieber Sidney,
ich brauche nicht weiter darüber nachzudenken – als ich Deinen Brief las, wusste ich sofort, dass Du recht hast. Wie kann man nur so begriffsstutzig sein! Seit ich hier bin, wünschte ich, ich hätte Elizabeth gekannt, und vermisse sie, als hätte ich sie tatsächlich gekannt – warum ist mir nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, über sie zu schreiben?
Morgen fange ich an. Ich will mit Dawsey, Amelia und Eben reden, aber zuallererst mit Isola. Mein Gefühl sagt mir, dass Elizabeth mehr zu ihnen gehört als zu den anderen, und ich möchte ihren Segen.
Remy will nun doch nach Guernsey kommen. Dawsey hat ihr geschrieben und sie offensichtlich überreden können. Er kann einen Engel überzeugen, aus dem Himmel herabzusteigen, wenn er beschließt zu sprechen, was er für meinen Geschmack zu selten tut. Remy wird bei Amelia wohnen, also bleibt Kit weiterhin bei mir.
In ewiger Liebe und Dankbarkeit,
Juliet
PS: Glaubst Du, Elizabeth hat Tagebuch geschrieben?
Juliet an Sidney
17. Juli 1946
Lieber Sidney,
kein Tagebuch, aber die gute Nachricht ist, dass sie gezeichnet hat, solange ihr Vorrat an Papier und Bleistiften reichte. In einer großen Zeichenmappe, die im Wohnzimmer ganz unten im Bücherregal lag, habe ich einige Skizzen gefunden. Rasch hingeworfene Porträts, die meine höchste Bewunderung erregen: Isola, wie sie auf irgendetwas mit einem Holzlöffel eindrischt, Dawsey beim Graben im Garten, Eben und Amelia, die Köpfe zusammengesteckt, bei einer vertraulichen Unterredung.
Als ich auf dem Boden saß und ein Blatt nach dem anderen umwendete, kam Amelia auf einen Sprung vorbei. Gemeinsam zogen wir mehrere große Bögen heraus, die über und über mit Skizzen von Kit bedeckt waren. Kit im Schlaf, Kit beim Krabbeln, auf dem Schoß, geschaukelt von Amelia, ganz versunken in die Betrachtung ihrer Zehen, quietschvergnügt mit Spuckebläschen am Mund. Vermutlich betrachtet jede Mutter ihr Baby so – so intensiv bis in alle Einzelheiten –, aber Elizabeth hat es zu Papier gebracht. Es gab auch eine zittrige Zeichnung von einer winzigen, verschrumpelten Kit, die laut Amelia am Tag nach ihrer Geburt entstanden ist.
Dann fand ich eine Skizze von einem Mann mit einem gutgeschnittenen Gesicht und recht ausgeprägten Zügen, der entspannt und offenbar über die Schulter hinweg die Künstlerin anlächelt. Ich wusste sofort, dass es Christian war – er und Kit haben exakt an der gleichen Stelle einen Haarwirbel. Amelia nahm das Blatt in die Hand; ich hatte sie noch nie von ihm sprechen hören und fragte, ob sie ihn gern gemocht habe.
«Der arme Junge», sagte sie. «Ich war so gegen ihn eingenommen. Es kam mir einfach irrsinnig vor, dass Elizabeth sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte – einen Feind, einen Deutschen –, und ich hatte Angst um sie. Und um uns andere auch.Ich fand sie zu vertrauensselig, ich dachte, er würde sie und uns verraten, deshalb sagte ich zu ihr, sie solle mit ihm brechen. Ich war sehr streng mit ihr. Elizabeth hat bloß das Kinn vorgereckt und nichts erwidert. Aber am nächsten Tag kam er mich besuchen. Oh, was habe ich mich erschreckt. Ich machte die Tür auf, und da stand ein riesiger Deutscher in Uniform vor mir. Sicher will er mein Haus beschlagnahmen, dachte ich, und wollte gerade protestieren, da hielt er mir einen Blumenstrauß hin, der schon ganz zerdrückt war, weil er ihn so fest umklammert hatte. Ich sah, wie nervös er war, hörte auf zu schimpfen und fragte ihn nach seinem Namen. ‹Hauptmann Christian Hellmann›, sagte er und wurde rot wie ein kleiner Junge. Ich war immer noch auf der Hut – wer wusste, worauf er aus war? – und fragte, was ihn zu mir führe. Er errötete noch stärker und sagte leise: ‹Ich bin gekommen, um Ihnen meine Absichten mitzuteilen.›
‹Absichten? Auf mein Haus?›, fuhr ich ihn an.
‹Nein. Auf Elizabeth›, sagte er. Wie im viktorianischen Zeitalter – als wäre ich der Vater und er hielte bei mir um die Hand meiner Tochter an. Er nahm in meinem Salon auf einer Stuhlkante Platz und
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