Deine Lippen, so kalt (German Edition)
»Schnapp dir den Kater, komm schon. Es ist eiskalt hier draußen.«
»Was meinst du, wo er das her hat?« Sie steht auf, ihre Stimme klingt gedämpft, weil sie Mr Purrfect fest an sich drückt und in sein Fell spricht.
»Ich habe letztens ein paar Sachen weggeschmissen«, erzähle ich ihr und werfe einen Blick über die Schulter, während wir quer über den Rasen zurück zum Haus gehen. »Es muss aus dem Müll geflattert sein.«
Sie blinzelt und selbst in der Dämmerung kann ich von ihrem Gesicht ablesen, dass sie es als Verrat empfindet. »Oh.«
Es tut weh, die Lüge so stehen zu lassen, aber ich habe keine Wahl. Mir bleibt nur, den Kater wütend anzustarren, der mich anfaucht, als Robin auf ihrem Weg zur Hintertreppe an mir vorbeigeht.
»Mach es aus«, sagt Danny stirnrunzelnd, als mein Handy zum vierten Mal summt.
Heute ist Moms langer Tag im Salon – montags macht sie nach Ladenschluss immer die Buchhaltung und putzt einmal durch, deshalb sind Robin und ich beim Essen und Hausaufgabenmachen allein. Aber da Robin sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, um irgendein abartiges Liebesfest mit ihrem dämlichen Kater zu feiern, konnte ich mich nach der gemeinsamen Tiefkühlpizza zur Garage schleichen.
Darcia schreibt mir eine SMS nach der anderen, kleine Freudenpiepser wegen Freitag und belangloses Zeug über die Schule oder zu Hause, genau wie früher. Es ist schön, bis auf die Tatsache, dass Danny – dieser Danny jedenfalls – nicht daran gewöhnt ist, mich zu teilen.
»Ich kann nicht.« Ich streiche sanft über seinen Rücken. Er sitzt auf dem Boden und malt etwas auf den großen Zeichenblock, den ich ihm zuletzt mitgebracht habe. »Ich habe Robin erzählt, dass ich in der Bücherei bin, und Mom ist nicht zu Hause, also muss ich drangehen, wenn sie anruft.«
Jetzt lüge ich Danny auch noch an. Nicht, dass ich das nicht sowieso schon getan hätte, aber es fühlt sich anders an, ihn wegen alltäglicher Dinge zu belügen. Ich schließe eine Sekunde die Augen, schlucke den Drang hinunter, loszuschreien und nie wieder damit aufzuhören.
Er wirft mir über die Schulter einen weiteren Blick zu, die Augenbraue immer noch gerunzelt. Drei dicke Kerzen brennen in der Zimmerecke auf dem Boden, ihre Flammen werfen tanzende Schatten auf sein Gesicht. Einen Wimpernschlag lang bin ich sicher, dass ich die knochige Kontur seines Schädels unter seiner Haut erkennen kann, die Einbuchtungen seiner Augenhöhlen, und ich schaudere.
»Ist dir kalt?« Von einem Moment auf den anderen ist seine Unzufriedenheit vergessen. Er schnappt sich die schäbige Decke vom Fuß der Matratze, um sie mir um die Beine zu wickeln, und seine Zeichnung segelt zu Boden.
Sie hat nichts mit seinen üblichen Comics und Figuren gemein. Stattdessen scheint ein riesiger, knorriger Baum aus der Mitte des Blattes zu wachsen. Seine Äste sind knochig, es sind lange Arme, die zu skelettartigen Fingern gedehnt sind. Dutzende von ihnen greifen nach mir, während ich das Bild anstarre. Ein Geisterbaum.
Ich schaudere wieder, und Danny rückt näher, schlingt seine Arme um meine Taille. Es hilft nicht – er ist wie Marmor, kalt und unbarmherzig, seine Rippen ein Käfig.
»Was ist das?«, frage ich ihn und zeige auf die Zeichnung, während ich gleichzeitig versuche, nicht zu zittern.
Er zuckt mit den Schultern. »Ein Baum. Siehst du das nicht?«
»Schon, aber … normalerweise malst du so was nicht.« Ich greife in meine Hosentasche und ziehe das zerknitterte Blatt heraus, fahre glättend darüber, ehe ich es vor ihm ausbreite. »Normalerweise malst du solche Sachen.«
Sein plötzliches Lächeln wirft mich aus der Bahn, der Danny, den ich liebe, kämpft sich unter dem Leichentuch hervor an die Oberfläche. »Das bist du.« Genauso plötzlich knurrt er: »Ich musste es nach der Katze werfen.«
Ich schlucke, das Zittern lässt sich nicht mehr unterdrücken. »Die Katze?«
»Robins Kater.« Er bewegt sich von mir weg, sein Körper ist wieder starr vor Anspannung, die Linie seines Rückens nicht mehr als ein Strich im Kerzenschein. »Das dumme Ding hasst mich jetzt. Früher mochte er mich.«
Ich zerreiße beinah das Blatt, als ich hochfahre, die Decke wegstoße und seinen Arm berühre. »Wann war der Kater hier oben, Danny?«
Er schnaubt verächtlich, als wäre es keine große Sache. »Vorher. Hat gefaucht und mir seine Krallen gezeigt. Ich war es, der ihm immer Thunfisch gegeben hat, Mann. Das ist nicht fair.«
Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott .
Weitere Kostenlose Bücher