Deine Schritte im Sand
er etwas, das mich an die Worte unseres treuen Freundes Pater François während unserer Hochzeitsvorbereitungen erinnert: »Ein Leben zu zweit in seiner Gänze zu begreifen übersteigt unsere Fähigkeiten. Es ist ungefähr so, als würde man sich all die Nahrung, die man im Lauf seines Lebens zu sich nimmt, auf einmal vorstellen. Dabei wird einem schon im Vorfeld schlecht, und man könnte tatsächlich den Appetit für das gesamte restliche Leben verlieren. Wenn man jedoch jeden Tag das isst, worauf man Lust oder Hunger hat, ohne an die Mahlzeiten des nächsten Tages oder der nächsten Zeit zu denken, ist es gar kein Problem. Und trotzdem hat man am Ende seines Lebens den ganzen riesigen Berg aufgegessen.« Ich muss lächeln. Loïc hat recht. Es ist wahr. Das Leben besteht aus einer Abfolge vieler einzelner Tage.
Der Spruch »Morgen ist auch noch ein Tag« erscheint damit in einem völlig neuen Licht und eröffnet mir einen Notausgang. Um zu überleben, muss ich schrittweise vorgehen. Ich darf mir nicht die Jahre vorstellen, die noch vor mir liegen, und darüber den Verstand verlieren. Meine Vorausschau muss mit dem Abend eines jeden erfüllten Tages enden. Eines Tages mit Schwierigkeiten, aber sicher auch mit zarten Freuden. Ja, wir werden einen Tag nach dem anderen leben. Nicht mehr.
»Weißt du, was merkwürdig ist? Ich habe kein einziges Mal nach dem Warum gefragt. Immer nur nach dem Wie.«
»Du hast recht. Seltsamerweise stelle ich mir diese Frage auch nicht. Dabei liegt es durchaus nahe, nach dem Warum zu suchen.«
Ich glaube, tief im Innern ist uns beiden klar, dass uns die Frage nach dem Warum verzweifeln lassen würde, und zwar aus einem einzigen Grund: Es gibt keine Antwort darauf. Die medizinischen Gründe – die Verbindung schadhafter Gene – sind uns bekannt. Sie bieten uns zwar eine Erklärung, aber keine Antwort. Warum diese Krankheit? Warum diese Schmerzen? Und warum wir? Warum sind von unseren drei Kindern zwei betroffen, obwohl die Genetik nur von einem Risiko von 1 : 4 spricht? Leider schert sich die Genetik nicht um mathematische Gesetzmäßigkeiten. Sie nimmt sich einfach ihr Recht. Instinktiv geben wir klein bei, denn wir können keine Antwort finden. Stattdessen wenden wir uns der logischen Folgefrage zu: Wie gehen wir damit um?
Nur so ist es möglich, einen Ausweg zu suchen. Und weiterzuleben.
E INE KNOCHENMARKTRANSPLANTATION könnte Azylis vielleicht retten. Ich kenne mich zu wenig mit Anatomie aus und weiß zunächst nicht, wo das Knochenmark sitzt. Ich bringe es mit dem Rückenmark in Verbindung. Doch schnell belehrt man mich eines Besseren. Im Knochenmark werden die weißen und roten Blutkörperchen sowie die Blutplättchen produziert. Es befindet sich im Innern von Knochen, daher sein Name. Bei der Operation wird das erkrankte Knochenmark durch das eines Spenders ersetzt – durch gesundes Mark, das gesunde Blutzellen hervorbringt. Im Fall von Azylis könnte der Eingriff dazu führen, dass sie selbst Arylsulfatase A produziert, jenes Enzym, dessen Fehlen für all unsere Probleme verantwortlich ist.
Der Professor hat diese Möglichkeit bereits bei unserem ersten Besuch im letzten April erwähnt. Allerdings nur für unser ungeborenes Baby, falls es ebenfalls unter dem Gendefekt leiden sollte – nicht für Thaïs. Für sie war es damals bereits zu spät. Bei der kindlichen Form der metachromatischen Leukodystrophie hat sich der Eingriff nach dem Auftreten der ersten Symptome als unwirksam erwiesen. Je früher die Operation jedoch stattfindet, desto besser stehen die Heilungschancen. Bis zum heutigen Tag wurden bei mehreren betroffenen Kindern Knochenmarktransplantationen durchgeführt. Wie es aussieht, hat sich ihr Leben durch den Eingriff verbessert. Geheilt wurde aber keines. Allerdings waren alle zum Zeitpunkt der Operation älter als Azylis – zwar nur um wenige Monate, aber in solchen Fällen können auch wenige Monate einen großen Unterschied ausmachen. Noch nie zuvor war die Diagnose so früh nach der Geburt gestellt worden wie bei Azylis. Wir gestatten uns, Hoffnung zu hegen.
Die Operation muss so schnell wie möglich erfolgen. Die Zeit drängt; das Problem ist fast ein mathematisches. Der Erfolg des Eingriffs zeigt sich etwa zwölf bis achtzehn Monate nach der Transplantation. Bei Kindern, die unter metachromatischer Leukodystrophie leiden, treten die ersten Symptome bereits in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr auf. Wir müssen also schneller sein als
Weitere Kostenlose Bücher